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Dragica Rajčić
«Gastfrau» der deutschen Sprache
Von Christa Baumberger

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Wenn Dragica Rajcic spricht, gerät die Welt aus den gewohnten Fugen. Grenzen verschieben sich, Imaginäres erscheint real: plötzlich sitzt der Grossvater mit am Tisch, daneben Hermann Broch, Musil und Peter Bichsel. Dann gibt die Geschichte eines Matratzenkaufs Anlass, kulturelle Stereotypen zu verhandeln und gleich noch Vergangenheit und Zukunft im Schlaf zu verbinden. Man lässt sich treiben von Rajcics Gabe zur Assoziation, man fliegt durch den Sommermorgen bis nach Kroatien und wieder zurück, durchquert Sprachräume, getragen von der Intensität ihrer Gedanken, dem Nachdruck mit dem sie über Sprache – ihre Sprachen – spricht, belebt von der Vitalität ihres Lachens. Eins ergibt das andere, ganz einfach …
Und doch ist es nicht einfach, mit ihr ins Gespräch zu kommen, denn viele der Fragen, die einem auf der Zunge liegen, werden in den Texten bereits (bloss-)gestellt: nach der Heimat und Fremde, Identitäten, nach Sehnsüchten und der Liebe, dem Krieg. Im Prosaband Nur Gute kommt ins Himmel (1994) beispielsweise findet man bereits die Reporterin, die nach der Bedeutung des Wortes Heimat fragt. Dort drückt sie hilflos den Knopf am Aufnahmegerät, während sich das Gegenüber wortreich um eine Antwort windet. Und im Buch von Glück (2004) sitzt ein männlicher Zuhörer, der nach der Lesung die unvermeidliche Frage stellt: «Wieso schreiben sie? Nicht in muttersprache …», als Auftakt zu einem Gedicht, dessen Verse in Mäandern um die «Stiefmuttersprache» Deutsch kreisen und in eine Antwort münden, die selber wieder eine Frage ist: «Das schreibende ich / Sagt das sprechende ich / […] / Genisst es / Fremdes zu probieren?» In der fragenden Zurücknahme bleiben die Aussagen in der Schwebe. Die Sätze ebenso wie ihre Urheberin entziehen sich einer klaren Verortung: «In der Schweiz lebe ich. Ich lebe fast in der Schweiz möchte ich sagen. […] Das Erkenntnis schnurt in mir Verdacht das ich eigentlich nirgends mehr wirklich lebe» ( Nur Gute kommt ins Himmel, S. 87). Der Schwebezustand ist Programm, an diesem Sommermorgen in Zürich genauso wie in allen ihren Gedichten. Und doch sind weder die Texte noch die Autorin lyrisch entrückt. Dragica Rajcic reflektiert ganz im Gegenteil in allen Facetten die eigene exzentrische Position und wirft von dort ironische Schlaglichter auf die Schweizer Gesellschaft, auf die Politik genauso wie auf das Alltagsleben und den Literaturbetrieb. Wer aussen vor bleibt, muss sich den Normen, die ihn glasklar und undurchdringlich umgeben, nicht beugen. Die Autorin geht sie mit einem bissfesten Humor und einer guten Dosis Selbstironie an. Davon zeugen bereits die Neologismen im Titel ihres ersten deutschen Gedichtbandes: Halbgedichte einer Gastfrau (1986). Wie dringt man als fremdsprachige Autorin ein ins Deutsche, Sprache der Dichter und Denker, in der ein Gast immer männlich ist? Gerade die Distanz zwischen den Sprachen bietet einen Freiraum und ermöglicht das Einweben von (feministischer) Sprachkritik.
Von 1978 bis 1986 lebte Dragica Rajcic in der Schweiz, kehrte dann nach Kroatien zurück und kam nach dem Ausbruch des Krieges 1991 wieder in die Schweiz. Seither schreibt sie fast ausschliesslich auf Deutsch. Es handelt sich um eine bewusste Sprachwahl, die sie in einem Gespräch folgendermassen begründet: «Literatur kann ICH ja eigentlich immer nur in der Sprache schreiben, die MICH umgibt, in der Literaturkultur, in der ICH lebe. Sprachaneignung ist ja immer Erosion und Eroberung gleichzeitig, man eignet sich die neue Sprache an und die alte geht dabei ein bisschen verschüttet.»
Mit ihren bislang fünf Gedicht- und Kurzprosabänden – Halbgedichte einer Gastfrau (1986), Lebendigkeit Ihre züruck (1992), Nur Gute kommt ins Himmel (1994), Post bellum (2000) und Buch von Glück (2004) – steht sie bis heute solitär in der schweizerischen Literaturlandschaft. Kein anderer Autor nichtdeutscher Muttersprache arbeitet derart radikal mit Sprachfragmenten. Keiner siedelt seine Texte so exponiert an den eigenen Sprachgrenzen an. Rajcics Gedichte verstossen gegen orthografische, grammatikalische und semantische Regeln. Der Umgang damit ist für das Lesepublikum und für die professionelle Literaturkritik bis heute eine Herausforderung. Auch wenn die Autorin bereits 1994 den Chamisso-Förderpreis gewonnen hat, wird sie heute noch manchmal als schreibende Gastarbeiterin präsentiert, die nicht nur fremde Böden, sondern auch fremdsprachige Wörter poliert – unbeholfen, ungeschliffen, fehlerhaft.
Für den Leser wirft das faszinierend Exotische Fragen auf: Welches ästhetische Potenzial verbirgt sich in den Fehlern? Wie intendiert sind sie? Kann man diese nicht-assimilierten, widerständigen Wörter als ein «Sprechen in Anführungszeichen» im Sinne Michail Bachtins lesen, als ein ironisches Aufbrechen der routinehaften Alltagssprache, und resultiert daraus die unverwechselbare Polyphonie ihrer Literatur?
Das Gespräch mit Dragica Rajcic zeigt, dass sich ihre ‹Gastarbeit› an der Sprache keineswegs unter dem Etikett Migrationsliteratur subsumieren lässt. Mit ihrer Schweiz-Kritik, der Hinwendung zu den kleinen Gesten des Alltags, aber auch mit ihrem untergründigen Humor gerät die Autorin in Kontakt mit der Traditionslinie schweizerischer Aussenseiter-Literatur, die von Robert Walser, Friedrich Glauser bis zu Niklaus Meienberg reicht. Gerade dem Letzteren hat sie denn auch mehrfach Texte gewidmet. Genauso unzutreffend wäre es aber, ihre Texte als Schweizer Literatur zu bezeichnen. Denn Dragica Rajcic wird nicht müde zu betonen, dass die Arbeit am Sprachmaterial, die Lust am Formen und Formulieren, das sprachliche Gestalten von Situationen der Fremdheit keine nationalliterarischen Grenzen kennt. Sie sind eine Grundkonstituente jeden Schreibens. Das folgende Gespräch nimmt deshalb die Fremdheit poetischen Sprechens ebenso in den Blick wie die Bereicherung durch Mehrsprachigkeit, die Thematisierung von Fremdheit in den Texten wie die Konstruktion des Fremden durch die Leser und die Literaturkritik.

  Gespräch

Dass ein Autor nicht über die Sprache per se verfügt, sondern sich Sprachen, verschiedene Varietäten, Sprech- und Schreibweisen aneignet, ist ein Gemeinplatz. Für Sie trifft dies aber in besonderem Masse zu. Ich möchte umgekehrt fragen: Haben Sie eine Vision einer idealen Schreibsprache?

Es muss wie ein Urzustand kommen, in dem es möglich ist, einen Neuanfang zu schaffen. Die Sprache gibt und nimmt uns Identität. Manchmal denke ich, wir können alles mit Sprache machen und dann scheint mir wieder, wir können gar nichts machen, es ist alles schon da.
Im Zentrum steht die Frage, ob Sprache ein Instrument ist um Welt zu berühren, oder ob sie eher ein Hindernis darstellt … ob uns die Sprache gegeben ist, oder ob wir sie uns aneignen müssen. Ich schwanke immer wieder …

Es ist bemerkenswert, dass Sie von «gegebener Sprache sprechen», weil …

… mir meine Schreibsprache nicht gegeben ist.

Genau, und damit sind wir bereits mitten im Thema Schreiben in einer fremden Sprache.

Es stimmt, die Brüchigkeit zwischen dem Selbst und der Wahrnehmung der Welt wird einem noch deutlicher bewusst, wenn man in einer fremden Sprache schreibt. Man kann das als Bereicherung empfinden, aber es ist auch eine Unsicherheit, denn die andere Sprache gibt einem auch ein anderes Selbstgefühl.
Für mich gilt: Ich muss in der Sprache leben, in der ich schreibe. Daraus ergeben sich dann zwei Fragen: Wie drückt sich dieses Ich aus in der fremden Sprache? Und wie artikuliert sich die neue Lebenssituation in der Sprache?

Sie sagen, dass Sie in der Sprache leben müssen, in der Sie schreiben. Bedeutet das auch, dass die gesprochene Alltagssprache einen besonderen Stellenwert für Sie hat?

Ja, sicher. In meiner ersten Zeit in der Schweiz habe ich mich auf Parkbänke gesetzt und dort die Leute belauscht. Ich habe Sprachfetzen aufgenommen, einzelne Brocken, obwohl ich wenig verstanden habe. Das Schweizerdeutsche hat etwas sehr Sperriges. Aber meine Ohren waren offen für diese fremde Sprache. Es war ein vorläufiger Zustand der Sprachlosigkeit, der mich auch an meine Kindheit erinnert hat. Ich komme aus einer Bauernfamilie. Eine gewisse Sprachlosigkeit treibt einen, sich absolut der Sprache zu widmen. Das findet man übrigens auch bei Norbert Gstrein sehr schön gestaltet.

Und aus diesen «Sprachfetzen» und «Brocken» sind von Anfang an Texte entstanden? Haben Sie die Reduktion nicht auch manchmal als ein Defizit empfunden?

Nicht unbedingt, ich habe das eher als eine Herausforderung angesehen. Und bei Lesungen höre ich immer wieder, dass ich in dieser sehr reduzierten Sprache einen Sachverhalt trotzdem treffend ausdrücken kann. Es ist wohl wie beim Kochen: Wenn man nur wenig Zutaten zur Verfügung hat, muss man umso genauer mit diesen umgehen. Und wie beim Kochen irre ich mich manchmal auch.

Hinzukommt, dass man den wenigen Wörtern, über die man verfügt, umso genauer nachspürt?

Ja, die Bedeutung jeden einzelnen Wortes bekommt einen ganz anderen Wert. Ich frage mich immer: Gibt es eine wahre Bedeutung eines Wortes?
Nehmen wir das Wort «Kulturaustausch». Stell dir dieses Wort bildlich vor: Ich gebe Ihnen meine Kultur und Sie geben mir Ihre, so wie man Servietten austauscht. In diesem deutschen Begriff wird deutlich, was für ein naives Kulturkonzept dahinter steckt.
«Kulturaustausch» hat auch einen sehr marktwirtschaftlichen Beigeschmack, es steckt der Gedanke der Effizienz darin. Deshalb spricht man heute auch von «Managing Diversity»: Wie kann ich aus sehr unterschiedlichen Mitarbeitern die höchste Leistung herausbringen?
Für mich ist «Kulturaustausch» aber ein dialogischer Prozess. Das Ideal wäre ein gemeinsames drittes Feld, in dem man auch das Eigene mit einem fremden Blick sieht.

Könnten Ihre Bücher ein solches «drittes Feld» darstellen? Die Auseinandersetzung mit dem Herkunftsland Kroatien aber auch mit der Schweiz und ihren widersprüchlichen Realitäten ist darin zentral.

Vielleicht. Auf jeden Fall gab es zwischen mir und der Schweiz keinen «Kulturaustausch», sondern es ist mir hier vielmehr die Fragwürdigkeit meiner eigenen Kultur bewusst geworden.
In meinen Gedichten versuche ich deshalb, einen Dialog mit mir selber zu führen. Deshalb wechsle ich auch ständig Positionen, das lyrische Ich bin nicht ich.

Wie arbeiten Sie?

(Lacht) Ich arbeite gar nicht.

Wie entstehen Ihre Gedichte?

Gedichte entstehen, sie erschaffen sich selber. Mein Widerstand gegen das Schreiben und mein Zwang zu schreiben halten sich die Waage. Es ist eine ständige Flucht und eine permanente Sehnsucht. Und auch ein ständiges Kokettieren: Wie lange kann ich dem Schreiben widerstehen? Offen gesagt wäre ein «schreibloser» Zustand für mich ein sehr glücklicher.

Darf ich einen Blick in Ihre Schreibwerkstatt werfen? Wenn Sie ein Gedicht notiert haben und es später wieder lesen, schreiben Sie es dann um, korrigieren Sie?

Sie meinen die Orthografie?

Nein, nicht nur. Mich interessiert der Entstehungsprozess deiner Texte in einem umfassenden Sinn.

Ich habe eine Haltung entwickelt, die kam von meinem Grossvater welcher sagte: «Langeweile ist eine Gottesgabe, man muss sie nur pflegen können». Die Sätze suchen mich und ich registriere sie. Gestern zum Beispiel kam ein Satz: «Es war die Liebe». Und irgendwann … es ist wie ein Motiv in der Musik, ein Takt, zwei, drei Takte. Um solche Wörter herum gedeiht dann das Gedicht, ich muss es wachsen lassen. Im Kopf entsteht ein Gerüst aus diesen abgeklopften Wörtern. «Es war die Liebe»: Das ist jetzt eher ein Prosa-Satz. Aber wenn mein Roman auch so entstehen würde, dann würde das 1000 Jahre dauern … ( lacht). Meine Sätze sehen ziemlich leicht aus. Aber mein Ich muss das alles gefühlt, gedacht haben.

Auch für mich haben Ihre Gedichte eine grosse Leichtigkeit. Und ich frage mich: Ist es eher der Klang einzelner Wörter, der Sie inspiriert oder sind es Gedanken, die im Kopf langsam reifen?

Nein, es sind einzelne Wörter, die geboren werden. Gedanken werden durch Wörter transportiert. Es ist aber tatsächlich so, dass mich einzelne Wörter im Kopf verfolgen.
Würde ich mich nicht kennen, so dächte ich an Lesungen: Was für ein spontaner und sorgloser Mensch. An Lesungen entsteht ein anderes Bild von mir. Aber hinter einzelnen Gedichten stehen Jahre.
Seit dem «Buch von Glück» habe ich nur einige kroatische Gedichte geschrieben und ein einziges Gedicht auf Deutsch. Ich erinnere mich genau, es hat mich an der Langstrasse erwischt:

Ich gehe am Ende der Welt
Die Welt ist rund
Na und

Das ist der einzige Satz, den ich auf Deutsch in den letzten drei Jahren niedergeschrieben habe. Das ist die Quintessenz meiner Suche seit dem Buch von Glück . Ich kann nichts mehr dazufügen. Erzwingen lässt sich nichts.

Nachdem Sie ein Gedicht niedergeschrieben haben, ändern Sie nichts mehr?

Nie. Es reift im Kopf bis es fertig ist. Ich warte und wenn es da ist, ist es da. Wie ein Kind …
Aber vielleicht habe ich mir das jetzt so zurechtgelegt, um mich zu verteidigen, dass ich so viel Zeit verstreichen lasse von einem Gedichtband zum nächsten.
Bei Lesungen merke ich manchmal: Da hat es ein Wort zu viel, dort fehlt etwas. Dann ändere ich das nachträglich beim Vorlesen. Wie Ernst Jandls Gedichte bekommen auch meine ihre Form durch das Hören. Dazu muss ich es eben laut lesen.

Wie muss man sich die Zusammenarbeit mit der Lektorin vorstellen? Wählen Sie die Gedichte zusammen aus?

Ja. Sie weist mich auf Tippfehler hin, die ich neben den normalen Fehlern auch mache. Diese eliminieren wir.

Es gibt also zwei Arten Fehler, Tippfehler und Sprachfehler?

Genau. Momentan lese ich Lebendigkeit ihre züruck wieder für die zweite Auflage. Weil ich heute das Deutsche viel besser beherrsche, komme ich natürlich in Versuchung meine Sprache zu verbessern. Ich werde aber versuchen, diese Fehler zu lassen. Denn für mich gilt der Moment des Schreibens, was nachher damit passiert interessiert mich weniger.

Das ist bemerkenswert, denn vielen Autoren fällt es schwer, einen Text loszulassen, selbst wenn er auf dem Papier ist …

Schauen Sie, ich habe drei Kinder grossgezogen, auch Kinder muss man loslassen lernen. Und ich war nie hauptberuflich Schriftstellerin, weil ich Angst habe Gedichte produzieren zu müssen. Leben und Schreiben müssen sich abwechseln und in einer guten Balance sein.

Vorhin haben Sie erwähnt, dass Sie neben den deutschen auch kroatische Gedichte schreiben?

Im Sommer schreibe ich meistens kroatische Gedichte, ohne literarische Ambitionen, weil die kroatische Sprache mich umgibt. Ich muss mich dann jeweils wieder in diese Sprache versetzen, die mir in der Zwischenzeit auch fremd geworden ist. Die Selbstverständlichkeit des Kroatischen hat mich verlassen.
Einige dieser Gedichte wurden im Internet veröffentlicht. Gerade ihre schlichte und einfache Sprache hat etwas Befremdliches. Ich werde nun plötzlich auch als eine kroatische Autorin veröffentlicht, was mich selber überrascht. Im Kroatischen habe ich einen anderen poetischen Anspruch als im Deutschen.

Welchen? Wie würden Sie Ihre Poetik, die deutsche und die kroatische, beschreiben?

Sie ist geschult an der kroatischen Literatur. Im Deutschen habe ich nicht dieselbe sprachliche Virtuosität, zudem verstehe ich zum Teil nicht, was die grossen deutschen Dichterinnen und Dichter sagen. Ich bestaune ihre komplizierten Formulierungen und komplexen Zusammenhänge. Es sind zwei völlig unterschiedliche Dinge, Wörter zu verstehen und sie als eigene zu benützen.

Sind Sie weniger in die deutsche Literaturtradition eingebunden?

Ich bin an die Weltliteratur gebunden, gewiss, durch ständiges Lesen. Darunter sind auch Deutsch schreibende Autoren, aber meine Präferenzen richten sich nicht nach der Nationalität der Literaten sondern nach den Themen, dem Stil und den Aussagen über das Leben.

Sie berufen sich immer wieder auf andere Werke … Welche Autoren und Autorinnen sind Ihnen besonders wichtig?

Vor allem österreichische Autoren sind mir sehr nahe. Bachmann, Mayröcker. Ich lese unglaublich gerne Celan und Hölderlin. Aber das ist für mich wie klassische Musik hören. Ich bin der Überzeugung, dass man Dichtung nicht verstehen muss um sie gerne zu lesen. Ich habe mit zwölf Kierkegaard gelesen, nicht verstanden, aber ich habe mich durch die Wörter durchgearbeitet.
Das Paradoxe bei mir ist: ich bezeichne mich selber nicht als Schriftstellerin, sondern als Leserin. Ich brauche Buchstaben wie Essen, schon in der Kindheit war ich sehr auf Sprache ausgerichtet, oder auf den Selbstausdruck durch Sprache. Der Magie der Buchstaben verfallen – dichterisch ausgedrückt.

Sie setzen sich so intensiv mit den Sprachen, die Sie umgeben, auseinander. Da wäre es nahe liegend, dass Sie auch Ihre eigenen Texte übersetzen?

Nein, das habe ich nie getan. Entweder schreibe ich auf Kroatisch oder dann auf Deutsch. Ich schätze Übersetzer sehr, als selbstlose, sprachlich hochbegabte Künstler.

Von August 2007 an verbringen Sie ein Jahr in den USA. Werden Sie dort auf Englisch schreiben?

Ich habe mir einen dicken Dictionary gekauft, um auf Englisch Gedichte zu zaubern. Und wieder ist es dieselbe Situation: Auch bei dieser neuen Sprache muss ich mir genau überlegen, was jedes einzelne Wort meint und was ich wirklich sagen will. Kaum lebe ich in einer neuen Sprache, nistet sie sich in mir ein . Ich höre die neuen Laute und Wörter und es entsteht ein Tanz, eine Bewegung im Kopf. Aber auch wenn man eine Sprache äusserlich beherrscht, ist man als Ausländer noch lange nicht in der Sprache drin.

Wird nicht genau das erwartet von einer Autorin mit Migrationshintergrund, dass sie diesen Bruch beschreibt, das «nicht in der Sprache drin sein»?

Ja, es gibt klare Erwartungen an einen Autor nichtdeutscher Muttersprache. Diese sind untrennbar verknüpft mit der Wahrnehmung des Menschen in der Gesellschaft. Sei es als Frau oder als Ausländerin, solche Zuschreibungen sind ständig am Werk. So werden zum Beispiel meine schweizkritischen Gedichte anders gelesen, weil ich hier Gast bin. Schweizkritik wird von einem Schweizer Autor gelobt und geradezu erwartet. Wenn ich dasselbe tue, dann wird das ganz anders wahrgenommen. Es ist nicht mein Land, ich habe keine Bürgerrechte.

Bestehen die Erwartungen an eine «Migrations-Autorin» darin, dass sie sich mit ihrer eigenen biografischen Situation befasst, mit Fragen zur Identität, mit ihrer Herkunft?

Ja. So stösst vielen negativ auf, dass ich den Plan habe einen Roman über Hermann Broch zu schreiben. Wieso kommt Dragica Rajcic auf Broch? hat sich beispielsweise ein Kritiker unlängst gewundert. Vielleicht verbirgt sich dahinter die Erwartung, ich solle Bekenntnisprosa schreiben. Bei Autoren mit Migrationshintergrund scheint es nahe liegend, dass sie ihre Biografie zum Thema machen. Die Putzfrau, die nach der Arbeit noch übers Putzen schreibt. Das ist wie eine Prostituierte, die noch ein Buch über Freier schreibt. Der Reiz liegt im Exotischen.

Welche Rolle spielt die Literaturkritik bei solchen Rollenzuweisungen?

Von der Literaturkritik wird vor allem das Fremde und Exotische wahrgenommen. So exportiert mich die Schweiz am liebsten als Kroatin. Für die Schweizer wirkt das Fremde bereichernd, wir Ausländer aber möchten es am liebsten loswerden.
Ich finde aber sehr wichtig zu betonen, dass ich nicht nur Opfer dieser Situation bin. Denn die Frage ist: Wer bestimmt, wer du bist? Gilt die Wahrnehmung der anderen oder die eigene? Es beflügelt mich, dass ich unterdessen als Schriftstellerin wahrgenommen werde und nicht mehr zuerst als Putzfrau.

Auf die Migrationsthematik haben Sie sich nie festlegen lassen. Gerade Ihr letzter Gedichtband, das Buch von Glück (2004), schlägt diesbezüglich einen neuen Weg ein. Das älteste und universellste Motiv der Lyrik steht dort im Zentrum: Die Liebe.

Ja, und vielleicht kommt sie etwas spät? ( Lacht) Seit Erich Fried trauen sich wenig Dichter über das Offensichtliche zu schreiben. Die grossen, existenziellen Themen wie Liebe, Tod, Krieg ziehen einem die Wörter gleichsam weg. Aber was einen nicht existenziell betrifft, darüber kann man gar nicht schreiben. Die Frage ist nur, wie man das tut. Die Wörter für Liebe sind etwas sehr Zweischneidiges. Die Liebe ist derart beredt, dass man sie fast tötet, wenn man über sie spricht. Und diese Herausforderung wollte ich annehmen.

Und wie reagiert das Publikum auf Ihre Liebesgedichte?

Gerade ein junges Publikum findet es ungeheuer spannend, dass ich in meinem Alter über die Liebe schreibe. Aber für mich bedeutet das Buch von Glück keinen Bruch mit dem Vorhergehenden. Wenn ich meine früheren Bücher wieder lese, merke ich, es gibt eine Kontinuität in den Themen. Vieles finde ich bereits in den Gedichten, die ich vor zwanzig Jahren geschrieben habe.
Ich habe mir nie vorgenommen, das fünfte Buch wird zum Thema Liebe sein. Es sind viel eher die Bücher, die einen suchen. Trotzdem weiss ich schon jetzt, das sechste Buch wird in poetischer Prosa sein. Dort kommen alle Themen zusammen: Exil, Politik … Liebe natürlich.

Bisher haben Sie immer kurze Formen gewählt, neben einem Band mit Kurzprosa sind vor allem Gedichte erschienen. Das sechste Buch nun wird ein Roman?

Ja, wobei bereits Nur Gute kommt ins Himmel (1994) ursprünglich als Roman geplant war. Im Schreibprozess ist er dann aber in einzelne Prosaskizzen zersplittert. Nun arbeite ich an einem längeren Prosatext zu Hermann Broch, eine Art Dialog. Ich bewundere diesen Dichter wider Willen sehr. Sein ganzes Werk kreist um die Frage: Ist die Dichtung überhaupt sinnstiftend oder einfach eine Verschleierung der politischen Ohnmacht? Und welchen Standpunkt soll man angesichts des nahenden Todes dem Leben gegenüber annehmen? In meinem Text geht es um den Krieg und die Nachwirkungen auf die Menschen über Generationen hinweg. Die Frage ist: Was kann die Wut eines einzelnen über den Krieg bewirken?
Ich bin bald fünfzig, und zum ersten Mal werde ich mich für ein Jahr nur schreibend betätigen ohne Brotarbeit. In Lexington Kentucky habe ich keine Ablenkung, ich werde dort hoffentlich nicht als Migrantin wahrgenommen und muss in keinen Kommissionen mitarbeiten. Ein Jahr schreiben ist eine ganz neue Erfahrung für mich. Und nach meiner Rückkehr aus den USA werde ich am Literaturinstitut Biel unterrichten.

- In der Buchausgabe wird dieses Dossier durch einen unpublizierten oder unübersetzten Text vervollständigt.
- Auf www.culturactif.ch/viceversa finden Sie zahlreiche Autorendossiers des Jahrbuchs Viceversa.
- Dragica Rajčić finden Sie auf den Autorenseiten von culturactif.ch

 

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