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Thomas Bouvier

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  Improvisation 1

 

John M Armleder
Ohne Titel (Furniture Sculpture 167), 1987

Thomas Bouvier / Improvisation 1

torve [tóRv] Adj.
(aus gleichbed. lat. torvus: >scharf<, >wild<, >finster<, >graus<; zu gr. tápßos- >Schrecken<, >Scheu<; afrz. torvain; vgl. it., port., span. torvo; Erstbeleg 1532)
1. (vom Augenausdruck) scheel, drohend, finster, verhohlen, hämisch.
2. (liter.) schräg, abschüssig, windschief, verzogen.

torve: ein Wort, das man kaum im Terrassencafé hört, das man auch ziemlich wenig in der Bäckerei oder im Supermarkt hört, das man höchst selten auf grellen Reklametafeln lesen dürfte. Torve, aus dem ich versucht bin, vôtre zu machen, und voter, orvet - Blindschleiche und vortex - Wasserwirbel, unter Zugabe eines schrägen X, was als x-torve den Namen für ein Videospiel neuesten Typs abgeben könnte.

Torve, das in meinem Grosswörterbuch zwischen toruleux und tory steht, von dem ich nicht weiss, warum es mir eigentlich so gut gefällt und warum ich es auch zwanzigmal hintereinander sprechen kann, ohne dass es etwas von seinem schrägen Charme verliert. Es ist auch nicht weit weg von torse - Rumpf, Oberkörper und seiner pektoralen Last. Feste und starke Brustmuskeln, die zucken, wenn sie gestreichelt werden; schwere, breite Brüste, die gut in der hohlen Hand liegen wie eine reife Frucht. Torve, das setzt fest ein beim t, kommt sanft an beim orve. Fest und sanft: Das macht den Klang aus. Die Grundbedeutung ist aber ganz anders, geht in Richtung Heimtücke, Drohung und das Unbehagen, das sich bei allem Schiefen, Zweideutigen einstellt. Heute, wo ich vor der photographischen Wiedergabe dieser Arbeit sitze, kommt es mir allerdings mehr auf die zweite, die stärker literarische Bedeutung an.

Zunächst see ich Grün. Ein gedämpftes und zugleich tiefes Grün, das ich gerne Teich-Grün nennen möchte. Es lässt an behäbigen Wohlstand alteingesessener Bourgeoisie denken, an gesichertes, unauffälliges Vermögen, das seinen stetigen Zuwachs hat und sich immer tiefer in der Beherrschung des Materiellen festigt. Ich kann mir dieses Grün sehr gut in den Salons eines Luxushotels denken, auf Sesseln und auf dem Boden, in schweren Feston teilweise die Fenster verhängend, die auf einen Innenhof gehen, wo im Halbrund eines Brunnens ein winziger Wasserstrahl plätschert.

Grün der Überzug des Sessels, grün die beiden kleinen Bilder, die auf ein Uhr darüberhängen. Das rechte ist monochrom, das linke ist diagonal von einem Strich durchzogen, der auf dem Photo leicht blau erscheint. Wie der Sessel da steht, ist er recht albern. In eine Zwischenwelt verirrt, die überhaupt nicht zu ihm passt, weit weg von den sicheren Ufern seiner eigentlichen Welt: der Waagerechten. Die Füsse, die Sitzfläche, die Armlehnen brauchen die Horizontale. Ohne sie wirken sie wie abgeschoben, nicht im Lot, sachfremd. Die Lehne, schon in der vertikalen Normalstellung nicht besonders gut dran, jetzt in der Schräglage vollends dazu angetan, auch den stärksten Rücken aufzureiben. VIel macht es gar nicht aus, das Möbel ist lediglich ein bisschen aufgekanntet. Statt anständig an der Wand zu stehen, wie es sich gehört, scheint der Sessel rückwärts die Wand hoch zu wollen. Er pfeift darauf, dass er von Rechts wegen flach stehen sollte. So steht er - nein, nicht zwischen zwei Stühlen, sondern zwischen zwei Stellungen: der senkrechten und der waagerechten. Er versucht's eben mal mit der Schräge. Die taucht ja auch auf dem linken kleinen Bild auf. Und überdies in den zwei Strichen auf der Rückenlehne, einem weissen und einem blauen. Ich denke bei mir, so mancher Gegenstand wird feindselig, wenn man ihn in die Verbannung nach Schrägland schickt. Egal ob ein Tisch, ein Bett, eine Schale, ein Becher oder auch die Decks eines grossen Luxusdampfers. Solange die horizontal bleiben, stelle ich gerne Liegestühle drauf mit vom Gesäss der Schönen und Reichen ausgebeulter Bespannung, wie die ihre ekligen Früchtecocktails schlürfen und das Obst sich scharf im Tiefschwarz ihrer Sonnenbrillen spiegelt, dienernde Grooms davor mit Tablett, Blumenstrauss und Briefchen. Aber lasst nur einen Hurrikan aufziehen, zerwühlt das Meer mit Dreissigmeterwellen, und die Decks gehen dahin, erst linksschräg, dann rechtsschräg, und alle schreien und laufen, um ihre Haut zu retten, im besonderen die über dem Gesäss. Ich denke dem Wort schräg hinterher, und es führt zu Panik, ja gleich auch zu Titanic! Lauter Nicks, die einem den Komfort verderben, den man doch von einem solchen Sessel erwarten darf, der einen so schön rund umfasst und dessen mütterliche Sanfheit nun durch das rückwärtige Aufbocken dahin ist.

Ich schaue noch einmal das Bild an und komme jetzt erst drauf, dass man ihm ja, damit er so stehen konnte, vorher die Füsse absägen musste, amputieren, was eine Rückkehr in die ursprüngliche Stabilität ermöglicht hätte. Wollte ich ihn jetzt flach hinstellen, er fiele elendiglich nach hinten, in eine mindestens ebenso verhängnisvolle Oblizität wie vorher. Wie bitte: Oblizität? Müsste ich nicht eher "Torvitüde" sagen, also "Abschüssigkeit"?

Noch einmal lasse ich meine Augen auf dem Dunkelgrün wandern. Ich denke bei mir, ein ganz und gar schräg gebautes Luxushotel hätte wohl kaum noch Gäste, und dieser Sessel hier fände wohl kaum Gästegesässe. Stellt doch mal den ganzen Komfort einer gutbürgerlichen Stadt schräg, und er wird alsbald Risse bekommen, aufspringen, ganz und gar abplatzen. Sollte es im Paradies Schatten geben ? War der Blick der Schlange vieilleicht... torv ? Und haben nicht sämtliche ihm unterstellten Dämonen krumme Beine ? Genau weiss ich es nicht.

Es gibt nun mal nicht viel, worauf Verlass wäre in dieser Welt voll Täuschung und Heimtücke, aber wie ich heute vor der photographischen Wiedergabe dieser Heim-tücke sitze, behaupte ich ernsthaft: Schrägen schadet der Gesundheit.

Thomas Bouvier,
Improvisation I. Aus dem Französischen von Hartmut Köhler. In: Muscheln und Blumen - Literarische Texte zu Werken der Kunst. (c) 2003 by Ammann Verlag und Co., Zürich.
Der Abdruck der deutschen Übersetzung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Ammann Verlags.

 

  Muscheln und Blumen

 

Beat Wismer, Stephan Kunz und Sibylle Omlin, Muscheln und Blumen, Literarische Texte zu Werken der Kunst, Aargauer Kunsthaus / Ammann Verlag, 2003

Eigentlich passt die Malerei in eine Falte der Zeit, aber diese Falte wird von ihr unendlich oft wieder entfaltet, und was da vor uns ohne zeitliche Ausdehnung erscheint, bleibt doch auf ewig in der Schwebe.

Jean-Christophe Bailly

"Mehr denn je scheinen mir Worte ausgeschlossen, und doch müsste die Möglichkeit, sich ihrer zwingend zu bedienen, da sein". schrieb Rilke einst in einem begeisterten Brief an seine Frau über die Bilder Cézannes. Rilkes Beobachtung mag dem vorliegenden Band wie ein Motto voranstehen.

Aus festlichem Anlass wurden 82 internationale zeitgenössische Schriftstellerinnen und Schrifsteller gebeten, jeweils über ein Bild oder eine Skulptur aus der Sammlung des Aargauer Kunsthauses zu schreiben. Die Texte sind mehr als überraschend. Unzählig vielfältig sind die Methoden oder Herangehensweisen. Es gibt - um nur einige zu nennen - mit Worten nachgemalte Bilder, wissenschaftliche Bildbeschreibungen, assoziative Gediche, persönliche Briefe, dramaturgisch intensive Erzählungen, hochqualifizierte Essays, ein Theaterstück und Texte mit halluzinatorischen Dimensionen. Die Imaginationen der Künstler und Autoren koppeln und verdoppeln sich, und es entstehen Momente des imaginierten Sehens in ihren kunstvollsten Resultaten. Muscheln und Blumen - nach dem Relief von Sophie Taeuber-Arp, das den Umschlag des Bandes schmückt - ein gleichnishafter Titel für ein unvergleichliches Buch.
Der Band ist eine erfrischende und ganz und gar besondere Anerkennung für ein international renommiertes Museum mit Beständen aus über 200 Jahren. Und endlich, ab Oktober 2003, kommt die bedeutende Sammlung dem Publikum in einem grösseren Umfang zu Gesicht - im attraktiven Erweiterungsbau von Herzog & de Meuron und Rémy Zaugg.

Beat Wismer
geboren 1953. Kunsthistoriker, lebt in Aarau. Seit 1985 Direktor des Aargauer Kunshauses Aarau.

Stephan Kunz
geboren 1962, Kunsthistoriker, lebt in Wettingen. Seit 1988 Kurator am Aargauer Kunsthaus Aarau.

Sibylle Omlin
geboren 1965. Germanistin, lebt in Zürich. Seit 2002 Leiterin der Abteilung Bildende Kunst Medienkunst der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel.

 

Page créée le 21.03.05
Dernière mise à jour le 15.04.05

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