Jürg Schubiger

Von Christine Lötscher und Christine Tresch

geboren 1936 in Zürich, aufgewachsen in Winterthur, kam nach verschiedenen beruflichen Anläufen und Abbrüchen und längeren Aufenthalten in Südeuropa zu einem Studium der Germanistik, Psychologie und Philosophie, das er mit einer Dissertation über Franz Kafka abschloss. Es folgten zehn Jahre Tätigkeit im pädagogischen Verlag seiner Familie. Ab 1979 arbeitete er vorwiegend als Psychologe in eigener Praxis – teilweise zusammen mit seiner zweiten Frau Renate Bänninger.

Heute wohnt er in Zürich und ist inzwischen ausschliesslich als Schriftsteller tätig. Seine Bücher für Kinder und Erwachsene wurden vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis, dem Schweizer Kinder- und Jugendmedienpreis und 2008 mit dem Hans-Christian Andersen-Preis.

Jürg Schubiger ist Vater von zwei Söhnen und Grossvater von sechs Enkelkindern.

 

Jürg Schubiger„Ich bin ein überzeugter Anfänger“

Von einem Autor zu sagen, er sei ein Anfänger, und dann erst noch von einem, der schon über siebzig Jahre lebt und über fünfzig davon schreibt – das geht nicht. Und doch ist Jürg Schubiger einer, der immer wieder neu anfängt – man braucht sich nur seine Buchtitel zu vergegenwärtigen: „Als die Welt noch jung war“ oder „Aller Anfang“, und ausserdem sagt er es auch selbst, unlängst in einer Rede am Institut für Jugendbuchforschung der Goethe Universität in Frankfurt klar und deutlich: „Ich bin ein geborener und inzwischen auch überzeugter Anfänger.“ Anfangen, so wie Jürg Schubiger es tut, ist eine Kunst. Schliesslich weiss der studierte Literaturwissenschaftler und langjährige Psychotherapeut im Grunde viel zu viel, um so voraussetzungslos an die Dinge heranzugehen, wie es seine Art des Schreibens verlangt. „Frisch von Satz zu Satz“ sollen seine Sprachgebilde sein; Geschichten sind es meistens, kurze und längere, und in letzter Zeit vermehrt auch Gedichte. Stehende Formulierungen meidet Schubiger in beiden Genres „wie der Teufel das Weihwasser“ (eine Redewendung, die wegen ihrer Antiquiertheit schon wieder zulässig ist), stattdessen sucht er nach neuen Verbindungen zwischen den Wörtern, die dem Leser Raum für eigene Gedanken lassen. Den Zustand der Voraussetzungslosigkeit kann er als Schreibender nicht erreichen, doch er kann ihn seinen Texten einschreiben, so dass man beim Lesen einen Augenblick lang erfährt, was es heisst, nichts zu wissen, ganz ohne Ordnung, Gewohnheiten, Selbstverständlichkeiten dazustehen. Das spielt er anhand von L., der Ich-Erzählerin in seinem neuen Roman „Die kleine Liebe“ (2008), durch; für die junge Frau gibt es keine Selbstverständlichkeiten. Die „grosse Liebe“ ist ihr suspekt – die kleine ist ihr lieber. Von einer „kleinen Liebe“ erzählt Jürg Schubiger auch in seinem Roman „Haller und Helen“ (2003); die beiden Titelfiguren leben in einem Altersheim und zu einem grossen Teil in der Vergangenheit – doch auch hier kann die kleine Liebe gedeihen, man muss sie nur wahrnehmen.

Eine weitere Möglichkeit, die Dinge anders zu sehen, ist für Jürg Schubiger das Überspielen von Grenzen, wie er es in seiner Neuerzählung der Sage von Wilhelm Tell („Die Geschichte von Wilhelm Tell“) tut, um den Schweizer Nationalhelden zu charakterisieren – und dabei neu zu erfinden: „Tausend war die grösste Zahl, die er kannte. Das heisst, er kannte sie eigentlich nicht, er brauchte sie bloss, wenn er ‚Potz tausend' sagte. Seine Finger reichten aus, um das zu zählen, was er besass: neun Ziegen, fünf Schafe und eine Kuh. Die Hühner und die Eier zählte seine Frau, und Bienen hatten sie keine.“
Nie manipuliert Schubiger seine Leser, nie verdreht er ihnen die Köpfe; und wenn er zaubert, dann tut er es offen, unter den Augen von Zuschauern, deren Blick er selbst geschärft hat. Wir sehen genau, was er verschiebt und wohin, und sind umso erstaunter über die grosse Wirkung der kleinen Handlung – wobei der Autor festhält, dass die Leser an seinen Texten stark beteiligt sind: „Meine Texte sind für Leser, die nicht nur mitgerissen werden wollen, sondern Lust haben, sich auch selber zu bewegen, Partner meiner Geschichten oder Gedichte zu werden.“ Was beim Lesen von Schubiger-Texten immer wieder entsteht, ist ein Gefühl von Freiheit, aber auch ein leichter Schwindel: „In diese Art von Ablauf lockt es mich beim Schreiben immer wieder“, sagt der Autor, „Schreiben ist wie ein Spaziergang über eine Grenze, der meistens amüsant ist und manchmal auch Schwindel erzeugen kann, denn im Übergang fehlt ein kleines Stück fester Boden.“

Es ist kein Zufall, dass im Roman „Geschichte von Wilhelm Tell“ ein Erzähler, der Grossvater, und sein intensiv beteiligter Zuhörer, der Enkel, im Mittelpunkt stehen. Die – untypische – Tatsache, dass es eine Erzählkonstellation unter Männern ist, hat ihren Ursprung in Schubigers Biografie. Obwohl der 1936 geborene Verlegersohn später Germanistik studiert und über Kafkas „Verwandlug“ promoviert hat, verlief Schubigers literarische Initiation ganz übers Ohr – übers Vorlesen. Spuren davon finden sich in jedem seiner Texte, die allesamt wunderbare Vorlesetexte sind. Dies hat mit dem Rhythmus der Sprache zu tun hat, der ihm beim allabendlichen Vorleseritual in der Familie in Fleisch und Blut übergegangen sei. Der Rhythmus bestimme sein Schreiben ganz stark, sagt Schubiger; manchmal sei er wie ein Zwang. Heute bestimmen anderssprachige Texte, die ebenfalls übers Ohr eindringen, seine literarische Welt. Die Gedichte von Garcia Lorca zum Beispiel, mit denen er vor Jahren Spanisch gelernt hatte und von denen er noch heute einige auswendig rezitieren kann; oder Italo Calvinos Sammlung italienischer Märchen, die Schubiger zusammen mit seiner Frau auf Italienisch (vor)gelesen hat.

Auch wenn er die Kunst des Anfangens wie kaum ein anderer beherrscht, auch wenn er selbst das Augenmerk immer wieder auf die Leere richtet, die beim Schreiben vor ihm liegende unbekannte Weite, wäre Jürg Schubigers Schreiben ohne sein literarisches Wissen nicht möglich. Er arbeitet nicht mit Zitaten und Anspielungen, doch der Bezugsrahmen wirkt auf den Text, auch wenn die Leser ihn nicht unbedingt erkennen. Gerade dadurch sprechen seine Geschichten und Gedichte die vorlesenden Erwachsenen genauso an wie die zuhörenden Kinder: Schubiger eröffnet literarische Begegnungsräume für junge und ältere Köpfe.
Er selbst spricht vom „literarischen Grundwasser“, mit dem sein Stoffwechsel verbunden sei; ein Grundwasser, in das alles Gelesene eingesickert ist, wobei sich der Übergang zum Eigenen langsam vollzieht.

 

Gespräch

Jürg Schubiger, Sie schreiben Bücher für Kinder und für Erwachsene, wobei Ihre Kinderbücher eher auch für Kinder als nur für Kinder sind – denn sie sprechen Erwachsene genauso an. Es gibt den Begriff „Crosswriting“ für Texte, die sowohl eine Ebene für Erwachsene als auch eine Ebene für Kinder haben. Suchen Sie diese doppelte Adressiertheit bewusst?

Beim Einstieg ins Erzählen geschieht kaum etwas bewusst. Das klingt zwar etwas kokett, aber es ist so. Ich denke viel übers Schreiben nach, auch beim Lesen eigener Texte, beim Korrigieren und UmschreibenWas ich dann analytisch erfasse, bleibt beim Schreiben als latentes Wissen gegenwärtig. Auch wenn Kritiker sagen, ich sei ein philosophischer Autor, so steckt keine philosophische Haltung oder gar Absicht beim Schreiben dahinter.


Ihre Texte sind aber philosophisch, das lässt sich aus der Sicht des Lesers nicht bestreiten; es wird über Sprache nachgedacht, über die Art, wie Menschen die Welt anschauen und wie sie miteinander umgehen.

Es handelt sich nicht um eine bewusste Philosophie, sondern sie ergibt sich einfach so. Es ist wie ein kleiner Ruck, eine leichte Verschiebung, die etwas Bekanntes neu sehen lässt. Plötzlich fällt ein neues Licht auf etwas. Ich habe das im Gedicht „Anderes jedoch“ zu zeigen versucht: „ Ach, das meiste / ist doch hundsgewöhnlich. / Dieser Hund zum Beispiel,/ oder dass die Vögel fliegen, / dass die Flüsse fliessen und die Ufer bleiben. //Anderes jedoch /ist höchst erstaunlich. / Dieser Hund zum Beispiel, /oder dass die Vögel fliegen,/ dass die Flüsse fliessen / und die Ufer stehn. // Dass uns solche Dinge / durch die Köpfe gehn.“


Im letzten September wurden Sie als erster Schweizer Autor in Kopenhagen mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet, der wichtigsten Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur. In der Begründung der Jury werden Sie dafür gelobt, dass Sie beim Erzählen eine Kinderperspektive einnehmen. Wie machen Sie das?

Wenn ich für Erwachsene schreibe, ist mir der Leser ebenbürtig, doch wenn ich für Kinder schreibe, gibt es zum Vornherein ein Gefälle: Ich weiss mehr als die Kinder. In Beziehungen mit Gefälle fühle ich mich nicht wohl. Es mir sehr wichtig, eine gemeinsame zu finden, ein unvoreingenommener, „naiver“ Blick auf die Welt ist dabei hilfreich. Wer sich sprachlich zu den Kindern niederkauert, ist im wörtlichen und übertragenen Sinn herablassend.


Stimmt es, dass Sie eigentlich gar nicht für Kinder schreiben?

Meine Texte für Kinder haben zumindest viel mit denen für Erwachsene gemeinsam. In meinem neuen Roman, „Die kleine Liebe“, nehme ich eine Perspektive ein, die man „kindlich“ nennen könnte : die Sichtweise einer jungen Frau mit einem sehr offenen, nicht von vorgegebenen Mustern geprägten Zugang zur Welt. Häufig habe ich diesen Blick auch selbst, etwa beim Betrachten von Bildern.


Handelt es sich um eine Art subversiver Blick, indem Sie sich weigern, sich auf den symbolischen Pakt mit dem Kunstwerk einzulassen?

Ja. Verallgemeinerungen und Symbole scheue ich sehr, obwohl ich sie natürlich auch verwende, es geht ja nicht anders. Wenn ich mich vor etwas fürchte, dann vor Menschen, die immer genau Bescheid wissen. Meine Art, die Dinge offen zu lassen oder unerwartet zu öffnen, könnte man psychologisierend auch als Suche nach einem Ausweg bezeichnen. Dazu gehört auch das Umformen von festen Wendungen. Ein schönes Beispiel habe ich kürzlich bei Wolfgang Hildesheimer, in einer Kindergeschichte gefunden. Er schreibt: „Der Riese verschlang den Jüngling sowohl mit Haut als auch mit Haar.“ Die Wendung „mit Haut und Haar“ wird hier so verändert, dass Haut und Haar wieder greifbar werden. Mir würde eine kleine Verschiebung genügen: „er verschlang den Jüngling mit Haut und mit Haar“ – so entsteht nur eine leichte Irritation, die man beim Lesen kaum bemerkt. Und doch wird man wachsam. Der Text soll Satz für Satz frisch bleiben. Fertige Versatzstücke verführen zu einem raschen und flüchtigen Lesen. Und wenn man rasch liest, trifft man im Text nur seine Vorurteile an.


Wie entsteht dieser Blick? Kommt es auf den Standort des Erzählers an?

Ja. Der Standort des Schreibenden lässt sich u.a. durch die Nähe oder Distanz zu den eigenen Figuren definieren. Mich interessiert aber der Ort, an dem sich der Autor dem entstehenden Text gegenüber befindet, mehr. Ich bin da in einer Grenzzone. Ich habe einiges Wissen angehäuft : Gedanken, die mir beim Überarbeiten von eigenen Texten oder beim Lesen von Büchern anderer Autoren durch den Kopf gegangen sind. Aber das Wissen, die gezähmte Welt, auch das Gewohnte, Vertraute, schon Gedeutete, in dem man sich auskennt, lasse ich im Schreibprozess strikt hinter mir. Vor mir liegt das Wilde, über das ich noch nichts weiss.


Schreiben als Abenteuer?

Ja, ich will mich am Rand des weissen Flecks bewegen. Ich suche Wege im Weglosen, wie Trampelpfade oder Lücken im Gebüsch, die von Tieren vorgetrampelt sind. Ich will die Welt nicht vermessen. Wobei der Trampelpfad im Gestrüpp auch ein einseitiges Bild ist, denn beim Schreiben entstehen immer Spielregeln, an die ich mich sehr genau halte.


Sie sagen, dass Sie beim Schreiben nichts denken. Wie muss man sich den Arbeitsprozess vorstellen?

Ich fange an zu schreiben und folge dem, was auf dem Papier entsteht. Es beginnt mit einem Einfall. Im Gedicht „Schneewittchen“ zum Beispiel hatte ich die Idee, den Vergleich einmal umzukehren. Schneewittchen ist schwarz wie Ebenholz, heisst es im Märchen der Brüder Grimm; „Ebenholz so schwarz wie du Schneewittchen“ ist die Umkehrung davon. Im Halbschlaf ist mir dann die Fortsetzung eingefallen; da wird aus dem Schneewittchen ein Wittchen: „Wenn du meine Witwe wärst, / wär ich schon tot.“ Häufig sind es nicht inhaltliche Dinge, die mir einfallen, sondern eher strukturelle. Und dann folge ich den Ideen, auch wenn ich sie selber nicht unbedingt verstehe.


Was bedeutet es, den Ideen folgen?

Wenn ich eine Geschichte mit dem Satz beginne: „Ein Vater hatte drei Söhne“, ist schon sehr viel in Hinblick auf die Struktur gegeben. Ich verwende sehr häufig volkstümliche Muster, aus Märchen zum Beispiel, die alle Leser kennen und die auch den Kindern vertraut sind. Bei mir wiederholt sich die Feier des Gewöhnlichen, dass beispielsweise der jüngste Sohn wie im Märchen als einziger die gestellte Aufgabe erfüllt.


Sobald wir über Ihre Texte reden, geraten wir ins Nachdenken – und landen bald bei den letzten und ersten Dingen. Auch in der Vorbereitung zu diesem Gespräch ging es uns so.

Die Frage, wie ich mit meinen Sätzen zu den ersten und den letzten Dingen komme, stelle ich mir nicht beim Schreiben. Am ehesten noch zu den ersten, die Anfänge sind ein häufiges Thema in meinen Texten. Um die letzten Dinge, wörtlich genommen, geht es in meinem nächsten Bilderbuch, das Rotraut Susanne Berner illustrieren wird: Es handelt sich um ein Bilderbuch zum Thema Tod. Für mich ist es eher eine Ausnahme, über letzte Dinge in einem vordergründigen Sinn zu schreiben.


Unter letzten Dingen stellen wir uns nicht nur das Ende vor – es kann ja auch um alles umfassende Denkansätze, um Grundfragen und Grundsätzliches gehen.

Das habe ich auch so verstanden; es gehört zu meiner Art, die Dinge zuerst einmal vordergründig zu nehmen. Nicht nur beim Schreiben, sondern auch im Alltag verstehe ich Metaphern zunächst häufig wörtlich.


Vielleicht regt genau diese Haltung die Leser zum Nachdenken an? Die letzten Fragen stecken bei Ihren Geschichten ja auch in der Struktur, nicht nur in den Themen. Wenn man sich anschaut, wie Sie den Ursprung der Wörter freizulegen versuchen, denkt man an den Spracherwerb von Kleinkindern. Wir Erwachsene wissen, dass die Beziehung zwischen dem Ding und dem Namen des Dings willkürlich ist. Doch aus einer kindlichen Perspektive sind die Verhältnisse noch nicht ganz klar – diese Position nehmen Sie in ihren Texten oft ein.

Für Kinder gehören die Wörter und die Dinge noch zusammen, es gibt für sie keine willkürliche Beziehung. In meinem Roman „Mutter, Vater ich und sie“ sagt die Hauptfigur: „der Mond ist mondig.“ Die Sonne dagegen ist sonnig. Sie weiss, dass es andere Sprachen gibt, doch sie leuchten ihr noch nicht ganz ein.


Beim Lesen Ihrer Texte stellt sich eine grundsätzliche phänomenologische Frage: Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts? Die Tatsache, dass wir in unserer Welt feststecken, wird einem bewusst, weil Sie versuchen, die Schachtel zu öffnen, in der wir unser Leben führen.

Im alltäglichen Gebrauch bewährt es sich, dass wir von der Annahme ausgehen, dass wir mit Scharlachrot Scharlachrot meinen. Es gibt aber noch eine andere Ebene. Für Wittgenstein ist das „dass“ wichtiger als das „wie“ – dass es etwas gibt. Ich kann sprachlos oder fassungslos sein nur darüber, dass etwas ist. Es gibt Momente, wo ich vor etwas stehe und nur denke: das ist jetzt da. Oder ich stelle mir vor, wie die Welt aussieht, wenn ich einmal tot bin: Wie sieht sie aus ohne mich, ist sie anders? Ändert sich etwas in der Landschaft eines Tales, wenn ich einmal tot bin? Sie kommt mir irgendwie allein gelassen vor.


Und umgekehrt, wenn Sie sich fragen, wie die Welt war, bevor Sie da waren? Vladimir Nabokov beispielsweise stellt diese Frage zu Beginn von „Erinnerung, sprich“.

Das ist eine ganz starke Stelle in diesem Buch. Es gibt tatsächlich eine Erinnerung von mir, die seiner Beschreibung dieses Gefühls nahe kommt: ein Foto meiner Mutter, auf dem ich schon in ihrem Bauch bin, während vor ihr David sitzt, ein jüdischer Junge, den meine Eltern jeweils den Sommer über bei sich hatten. Im Winter war er dann in Paris; irgendwann wurde er von den Nazis deportiert. Da frage ich mich: Wie war die Welt damals? Ich befand mich noch hinter der Bauchwand und David, eine Art älterer Bruder, hat die Welt ganz anders erlebt. Ich stelle mir diese Frage natürlich auch bei den Anfängen. Die Frage von Nabokov hat mich sehr überrascht; ich war bestürzt darüber.


Wenn Sie erzählen, wie Sie auf ein Tal hinunterschauen, dann sehen wir Sie und Ihren Blick auf das Tal. Das erinnert uns an die Malerei, an Caspar David Friedrich. Sie sind immer auch da, es braucht jemanden, der schaut. Zur Frage, was vorher oder nachher war, gehört auch, ob man sich aus dem Bild herausdenken kann.

Obwohl diese Frage eigentlich nicht gestellt werden kann, ergibt sie einen Sinn, denn sie bringt mich weiter. Sie kann so etwas wie eine Brücke sein, die mich an einen anderen Ort führt. Goethe sagt: Wahr ist, was fruchtbar ist. Die Wahrheit erweist sich ja erst im Laufe der Zeit – sie bewährt sich.


Eine Inspirationsquelle für Ihr Schreiben sind Märchen mit ihren Bauformen. Gibt es noch andere Textsorten, die Ihnen wichtig sind?

Die Chassidischen Geschichten, die Martin Buber mit kräftiger Unterstützung seiner nirgends erwähnten Frau gesammelt hat, sind mir sehr wichtig. Es gibt eine Geschichte, in der der Rabbi von Lublin berichtet, er heile so viele Menschen von ihrer Melancholie, wo er doch selbst – da will er zuerst sagen – melancholisch sei, findet dann aber eine andere Formulierung und sagt: „Wo ich doch selbst schwarz bin und nicht leuchte.“ Für mich ist es gerade dieser Satz, der leuchtet, der den Rabbi ganz hell macht. Solange man von „Melancholie“ spricht, nimmt man eine Aussenposition ein, doch wenn man ganz drinsteckt im Schwarzen, in der Trauer, hat das etwas Heilendes. Wir versuchen alles zu therapieren – dabei vergessen wir, dass es den Trost gibt, der auch helfen kann, wenn etwas nicht heilbar ist.


Sie schreiben zurzeit Gedichte für Kinder, die im Peter Hammer-Verlag erscheinen werden. Man nimmt allgemein an, dass sich Kindergedichte mehr von der Lyrik für Erwachsene unterscheiden Kinderprosa von der Prosa für Erwachsene. Das äusserst metaphorische Sprechen, das die Erwachsenenlyrik auszeichnet, das Reden in Symbolen, das Auratische, die Reduktion und das Mitgemeinte ist in der Lyrik für Kinder aufgehoben im Spiel der Sprache, im Reim und Ton. Ist der Dichter Jürg Schubiger ein anderer als der Erzähler?

Bei den Gedichten suche ich noch nach meinem Ton, ich habe noch nicht viel Erfahrung im Schreiben von Lyrik – immer wieder einmal bin ich verführt von schönen Formen, die mir dann auch wieder zu schön sind. Ich verspreche mir noch einiges vom Schreiben von Gedichten, obwohl ich erst am Anfang bin, doch in diesen Anfängen steckt viel Hoffnung drin.


Ist die Arbeitsweise eine grundlegend andere, wenn Sie Gedichte schreiben?

Ich arbeite eher aus dem Augenblick heraus. Wenn ich Geschichten schreibe, gibt es häufig einen Anfang, einen Kernsatz oder einen ersten Satz, zum Beispiel „als ich auf die Welt kam, war die Welt schon da“. Dieser Satz hat einen ganzen Text generiert. Ich sass damals im Rigiblick, weil es da ein Restaurant ohne Musik gibt und hatte ungefähr eine halbe Seite geschrieben. Diese habe ich meiner Frau gezeigt mit der Frage: Ist das etwas? Und sie meinte, ja, das ist etwas.


Und woher kommen die Ideen beim Gedicht? Sind es da auch bestimmte Sätze, die Ihnen einfallen, oder sind es eher Denkbilder, Wortspiele?

Bei den Geschichten muss ich berührt werden, ich kann das nicht erklären, aber es braucht eine Korrespondenz zwischen dem, was auf dem Blatt steht und einem Punkt bei mir, den ich jetzt nicht gleich Herz nennen will, das wäre missverständlich. Oder ich muss mit einem Text so weit kommen, dass diese Übereinstimmung entsteht. Bei den Gedichten kommt der Anstoss tatsächlich aus Denkbildern oder Wortspielen.


Man könnte das eine Versuchsanordnung nennen – kommt dieses Verfahren beim Prosaschreiben nicht vor?

In meinem Bilderbuch „Der weisse und der schwarze Bär“ erzählt das Kind, und die Mutter fragt nach den Bären. Daraus entsteht eine Form, die ich wiederhole. Dass ich mich von solchen entstehenden Bauformen anregen lasse, sie wieder aufnehme und variiere, das ist eine Verwandtschaft zwischen Lyrik- und Prosaschreiben. Ich muss beim Schreiben ein Muster, das entsteht, erkennen. Das ist ein ganz wichtiger Teil meiner Arbeit.


Und beim Gedicht kommt der Rhythmus dazu, teilweise auch der Reim?

Häufig lässt gerade der Reim den Sinn entstehen – viele Reimwörter sind Trouvaillen, auf die man nur durch die Form kommt. Wenn ich nicht weiterkomme beim Schreiben, egal ob es sich um ein Gedicht oder eine Geschichte handelt, dann lasse ich das Manuskript ein paar Tage liegen; und irgendwann, ganz unvorhergesehen, kommt mir wieder eine Idee. Früher habe ich das Backofentechnik genannt: Ich schiebe etwas in den Ofen und lasse es aufgehen. Wenn eine Idee fällig ist, fällt sie mir ein.


Sie sind auch Psychologe, bis zu ihrer Pensionierung haben sie als Psychotherapeut gearbeitet. Fliesst etwas von dieser Erfahrung beim Schreiben ein?

Ich habe durch meine Arbeit als Therapeut Gelassenheit und Zuversicht im Umgang mit menschlichen Problemen gelernt und vor allem: dass nicht sofort etwas verändert, geflickt werden muss. Ich kann aufmerksam bleiben und solche Dinge sehen und beschreiben. Diese Haltung ist Übungssache; am Anfang wird man stark hineingezogen in das, was die Menschen einem erzählen. Doch das ist eine unfruchtbare Position, sie bringt einen nicht auf neue Ideen. Es gibt tatsächlich Gemeinsamkeiten zwischen Therapie und Schreiben. Man muss einen Angelpunkt finden, an dem sich etwas Verfestigtes bewegen lässt. Ein neuer Blick und Ausblick wird dann möglich. Es geht nicht darum Berge zu versetzen.

Christine Tresch ist Mitarbeiterin des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM) und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Sie lebt in Zürich.

Von Christine Lötscher und Christine Tresch

 

Jürg Schubiger : "Drei Träume"

Ein Mann träumt, er werde verfolgt. Um sich zu retten, wühlt er sich in einen Heustock ein. Aber zu spät. Schon hört er Schritte auf der Leiter. Er erwacht vor Schreck.

Ein Zweiter träumt, er verfolge einen Mann über eine Leiter empor und sehe gerade noch, wie dieser in einem Heustock verschwindet. Der Zweite erwacht hier nicht, er träumt weiter. Er fasst den Ersten an einem zappelnden Bein und zieht ihn aus dem Heu heraus und weiss dann nicht, was er mit ihm anfangen soll. Ratlos erwacht er.

Ein Dritter träumt, er sei ein Heustock. Ein Verfolgter wühle sich in ihn ein. Der Verfolger komme die Leiter empor und fasse den Verfolgten an einem zappelnden Bein und ziehe daran. Der Dritte steht ganz auf der Seite des Ersten. Er will ihm helfen. Er kann aber nichts für ihn tun, er ist ja ein Heustock.

Wenn der Dritte hier doch erwachen könnte! Doch er schläft weiter, verzweifelt, dass er nichts ausrichten kann, und duftet weiter nach Heu. Er ahnt nicht, dass der Erste längst wach ist und im Bad seinen Schreck vom Gesicht wäscht, und dass der Zweite den Traum schon vergessen hat.

Das beste wäre, der Erste und der Zweite würden den Dritten wecken. Der sähe dann, dass die ganze Geschichte für alle drei zu einem guten Ende gekommen ist.