Adolf Muschg
Im richtigen Moment die richtige Frage stellen

Von Thomas Feitknecht

Seit rund 50 Jahren findet Adolf Muschgs Stimme in Literatur, Wissenschaft, Politik und Gesellschaft weit über die Schweiz hinaus Gehör. Geprägt durch seine Herkunft, hat Muschg ein facettenreiches Œuvre geschaffen, das sich kontinuierlich weiterentwickelt. Es ist aus der Enge von Zwinglis Zürich ausgebrochen, hat sich geöffnet, Grenzen und Gattungen überschritten, andere Disziplinen wie Medizin, Psychiatrie, Soziologie mit einbezogen.

Als junger Germanist hat Adolf Muschg 1962 seine Heimatstadt verlassen und ist auf dem Seeweg nach Japan gereist, um eine Stelle als Universitätslektor anzutreten. Die Annäherung an ein Land, das schon seine Halbschwester Elsa fasziniert hat, wird für ihn lebensentscheidend. Nach Europa zurückgekehrt, schreibt Adolf Muschg den Japan-Roman Im Sommer des Hasen , der ihn in die vorderste Reihe der zeitgenössischen Autoren rückt. Parallel zum Schreiben, und nicht immer konfliktfrei, verläuft die akademische Laufbahn, die ihn aus dem Schatten seines Halbbruders Walter heraustreten lässt. Mit zwei Autoren der Vergangenheit setzt sich Adolf Muschg als Wissenschaftler immer wieder auseinander: Mit Gottfried Keller, in dessen vaterloser Jugend er sich selber erkennt, und mit Goethe. In beiden sieht Adolf Muschg auch die Möglichkeiten und Grenzen des politischen und sozialen Engagements, dem er sich selber verschrieben hat.

Die Beschäftigung mit dem Schweizer «Nationaldichter» beginnt 1975 mit dem Theaterstück Kellers Abend , das Gottfried Keller in einem historischen Augenblick zeigt, am Vorabend seiner Amtseinsetzung als Zürcher Staatsschreiber. Keller sieht dem Treiben um ihn herum stumm zu, bis er am Schluss aufbraust, gewalttätig wird und nach Hause gebracht werden muss. Zwei Jahre nach diesem Theaterstück folgt die grosse Gottfried-Keller-Monografie, die sprachlich und inhaltlich aus der Sekundärliteratur jener Zeit weit herausragt. Muschg öffnet darin einen sehr subjektiven Zugang zu Keller, und wenn er von ihm spricht, dann spricht er immer auch von sich selber. 1998 schliesslich erscheint unter dem Titel O mein Heimatland! (dem Anfang eines Keller-Gedichts) eine literarische Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, mit Gottfried Keller und der Schweizer Vergangenheit und Gegenwart. Der Gegenspieler in O mein Heimatland! ist mit «Christof B.» klar benannt und personifiziert, die Kritik präzis. Die politischen Aufsätze dieser Zeit hingegen sind polemischer, bereits im Titel schärfer und anklagender: Empörung durch Landschaften (1985), Die Schweiz am Ende – Am Ende die Schweiz (1990) und vor allem Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt (1997) – ein Text, der im Zusammenhang mit der Rolle der Schweiz im 2. Weltkrieg eine heftige öffentliche Debatte auslöst und den Autor persönlichen Verunglimpfungen aussetzt.

Muschgs Opus magnum ist der 1000-seitige Roman Der Rote Ritter (1993), in dem ein alter literarischer Stoff kunstvoll nacherzählt und mit tiefenpsychologischem Wissen und aktuellen Fragen verbunden wird. Die erste Begegnung mit dem Parzival-Komplex – ein Zeichen für die bei ihm fruchtbare Interdependenz zwischen Wissenschaft und Literatur – ist genau zu datieren: Es ist die Studienzeit in den Fünfzigerjahren an der Universität Zürich, und die erste Spur findet sich in einem 17-seitigen Typoskript «Parzival und die Minne – Referat gehalten bei Prof. M. Wehrli im Rahmen des Seminars über Wolframs Parzival». Ein Handexemplar von Wolfram von Eschenbachs Parzival und Titurel , «herausgegeben und erklärt von Ernst Martin», erschienen 1920 in Halle, liegt ebenfalls bei den Dokumenten im Archiv von Adolf Muschg. Die jahrzehntelange intellektuelle Beschäftigung mit dem Stoffkomplex ist dokumentiert im 1994 herausgegebenen Essayband Herr, was fehlt Euch? , der den Untertitel trägt «Zusprüche und Nachreden aus dem Sprechzimmer des heiligen Grals». Die Frage, die Parzival zunächst dem Gralskönig zu stellen vergisst, gibt Muschg Anlass, die Auseinandersetzung mit Krankheit, Psychosomatik und Psychotherapie weiterzuführen, die er in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung autobiografisch formuliert hat und die 1981 unter dem Titel Literatur als Therapie? Ein Exkurs über das Heilsame und das Unheilbare in Buchform erschienen ist.

Die Psychoanalyse spielt ebenfalls in den Roman Albissers Grund (1974) hinein, die Geschichte eines Gymnasiallehrers, der auf seinen geheimnisvollen Therapeuten Zerutt geschossen hat (eine Figur, die zehn Jahre später im Vampir-Roman Das Licht und der Schlüssel wiederkehrt). Albisser ist ein verhinderter Revolutionär, und das Buch sucht nach den Gründen für dieses Scheitern. Vom Misslingen handeln auch die Erzählungen Muschgs, vielfach Liebesgeschichten (so der Titel eines 1972 erschienenen Bandes), die ohne Happyend ausgehen. Zu Muschgs bekanntesten und erfolgreichsten dieser Liebesgeschichten gehört « Der Zusenn oder das Heimat», in der ein Mann vor dem Gericht umständlich zu erklären versucht, warum er ein inzestuöses Verhältnis mit seinen Töchtern unterhalten hat. Diese Erzählung ist unter dem Titel L'Alpage auch dramatisiert und im Théâtre de Carouge-Atelier de Genève aufgeführt worden. Das vielfache Versäumnis des Protagonisten in seinem bisher letzten Roman deutet Muschg bereits im Titel an: Eikan, du bist spät (2005) ist die Liebesgeschichte zwischen einem Schweizer Cellisten und einer japanischen Kollegin. Mit diesem Künstlerroman kehrt Muschg literarisch zum Thema Japan zurück, das ihn seit seinem Erstlingsroman nicht losgelassen und dem er sich in der Zwischenzeit essayistisch immer wieder gewidmet hat.

 

Gespräch

Sie sind 1962 als junger Wissenschaftler nach Japan gegangen, um eine Stelle als Lektor an der International Christian University Tokyo anzutreten. Nach der Rückkehr in die Schweiz haben Sie mit dem Roman Im Sommer des Hasen drei Jahre später Ihr erstes Buch veröffentlicht. Warum Japan? Warum literarisches Schreiben?

Japan, da gab es eine frühe Prägung durch ein Kinderbuch, das meine Schwester Elsa Muschg in den Zwanzigerjahren erlebt und in den Dreissigerjahren verfasst hat. Es hiess Hansi und Ume und spielte einerseits in meinem und ihrem realen Elternhaus und anderseits im Elternhaus des kleinen halb japanischen Mädchens, das die Heldin des Buches war. Und dieses japanische Haus stand und steht immer noch in Kyoto. Also begann ich gewissermassen mit einer Ellipse, mit einem doppelten Mittelpunkt, einem schweizerischen und einem japanischen, einem realen, von Heimweh besetzten, und einem imaginären oder virtuellen, von Fernweh besetzten. Und dieses Muster hat sich dann merkwürdigerweise gehalten und einen Teil meiner Produktion bestimmt. In meinem ersten Roman Im Sommer des Hasen habe ich versucht, meine verschiedenen Reaktionen auf das exotische Japan kritisch zu behandeln und auf ein paar Stimmen zu verteilen. Soviel zu Japan. Und warum literarisches Schreiben? Ich habe von meinem Vater gelernt, einem pensionierten Primarlehrer, dass es zwei Dinge gibt im Leben, die man machen muss, Lehrer sein und Romane schreiben. Er hat das verteilt auf den Arbeitstag in der Schule und den Feierabend mit dem Pressspanheft am Wohnzimmertisch, und wenn er seine Lehrerhandschrift in die Schreibmaschine abgeschrieben hat, war das Klappern dieser Schreibmaschine mein Wiegenlied. Auf diese Weise bin ich Tag und Nacht eingeweiht worden in meine zwei Berufe.

Seit über vierzig Jahren sind Sie nun sowohl als Schriftsteller als auch als Wissenschaftler tätig. Sind sich die beiden Tätigkeiten nie in die Quere gekommen?

Das ist eine Frage, die merkwürdigerweise oft gestellt wird, offenbar in der Annahme, wer ein Buch als Philologe oder Germanist lese, der kenne sein Geheimnis, und wer ein Buch schreibe, dürfe von dem, was er schreibe, nicht allzu viel wissen. Ich glaube, beide Prämissen sind falsch. Ich habe in meinem Leben von bedeutenden Büchern auch verschiedene Versionen von Lektüre. Wenn ich ein Beispiel nennen darf: Die Wahlverwandtschaften von Goethe, die ich als 16-Jähriger gelesen habe, sind ein anderes Buch als diejenigen, die ich heute lese. Und was das Schreiben betrifft: eine der schönsten Erfahrungen beim Schreiben, eine der merkwürdigsten ist, dass man zwar zu wissen glaubt, was man tut, am Anfang, sonst finge man nicht an. Man braucht so etwas wie einen Horizont, auf den man zufährt, aber die Inseln an diesem Horizont sind meistens nicht diejenigen, bei denen man landet, und die Strömungen unterwegs tragen einen in völlig andere Gegenden. Im schlimmsten Fall hat der Ausgangspunkt mit dem Ziel nichts zu tun. Aber es kann auch der Glücksfall eintreten, dass einen unterwegs das gepackt hat, was gewissermassen die unterschwellige Kraft ist, die einen zum Schreiben und zu einem bestimmten Motiv treibt. Meine Lieblingsformulierung lautet, dass sich eigentlich die Stoffe ihre Autoren suchen und nicht die Autoren ihre Stoffe. Es gibt Dinge, die verlangen, erzählt zu werden. Und wenn du Glück hast, bist du der Richtige dafür, wenn du Pech hast, bist du der Richtige dafür, aber es war der falsche Tag, dann musst du am nächsten Tag wieder dran und schauen, ob es jetzt besser klappt zwischen euch. Etwas von dieser Struktur, die ich jetzt beschreibe, habe ich ein einziges Mal in meinem Leben versucht, auch als Erzählung selbst darzustellen, das war Der Rote Ritter . Die Frage ist am Anfang immer die falsche, und so kann die Antwort auch nicht anders als falsch sein. Aber weil die Frage offen ist, führt sie zu grösseren Fragen, und grössere Fragen führen zu dem, was man dann Lebenskunst nennen könnte.

Sie haben sich seit den Siebzigerjahren immer wieder, als Wissenschaftler und als Autor, mit Goethe und Gottfried Keller befasst und auf deren Aktualität hingewiesen. Was hat Sie gerade an diesen beiden Autoren fasziniert?

Bei Goethe kann ich bestimmt antworten, dass mein Doktorvater Emil Staiger, der Goethe-Forscher in meinem Germanistikstudium in Zürich, nichts damit zu tun hat. Goethe ist mir im Militärdienst, in der Rekrutenschule zum notwendigen Autor geworden. Es gab eine gebundene Ausgabe im Reclam-Verlag, die sich in jeden Tornister packen liess. Ich erinnere mich, es klingt ein bisschen melodramatisch im Rückblick, aber ich hätte die Rekrutenschule ohne dieses Büchlein nicht überlebt. Es war ein Geist aus der wahren Welt, den ich dazwischen einsaugen konnte. Dass Goethe dafür der Richtige war, habe ich ihm sozusagen nie vergessen. Es wäre mir mit keinem anderen Autor gelungen, weil es an ihm immer noch etwas zu rätseln gibt, seine Sprache geht nicht auf, und entsprechend auch die Antworten nicht. Das ist ganz sicher die Quelle meiner Liebe zu Goethe, die manifeste Quelle. Ja, und Gottfried Keller: ein guter Freund hat etwas maliziös bemerkt, meine Keller-Studie sei meine einzige Autobiografie … Wenn es so ist, dann habe ich ganz gewiss nichts davon gewusst, aber ebenso gewiss habe ich etwas davon gespürt beim Arbeiten. Es konnte ja nicht an mir vorbeigehen, dass Keller als Witwensohn, wie ich auch, aufgewachsen ist. Die Differenzen sind dann ebenso eklatant: Kellers Mutter hat sich wieder verheiratet, das ist mir nicht passiert. Dafür habe ich die Geschichte «Herr Hartmann» geschrieben, erschienen im Erzählband Der Turmhahn , wo dies geschieht, wo die Mutter auf dem Sterbebett die Kraft aufbringt, sich zu einer Liebesgeschichte zu bekennen, von der der Sohn nie etwas gewusst hat. Heute weiss ich, dass ich meiner Mutter eine solche Geschichte gewünscht hätte. Ebenso sicher ist, dass sie mich zu unserer gemeinsamen Lebenszeit genau so verbittert hätte wie den kleinen Gottfried Keller.

Goethe und Keller waren als Schriftsteller erfolgreicher als in ihrem öffentlichen Wirken für den Staat. Sie, Adolf Muschg, waren 1974–77 Mitglied Kommission Furgler für eine Totalrevision der Bundesverfassung, 1975 sozialdemokratischer Ständeratskandidat im Kanton Zürich und 1995 Mitglied der Projektgruppe für eine Stiftung Solidarische Schweiz – auch das Unternehmungen ohne grossen, sichtbaren Erfolg. Wie beurteilen Sie aus der Rückschau diese Tätigkeiten?

Es klingt jetzt etwas hochmütig, ich meine es aber bescheiden: das war für mich Lehrstoff oder Lernstoff. In den Gremien, in denen ich mitwirkte, war ja nicht ausgemacht, dass am Schluss, im pragmatischen Sinn, nichts daraus würde, weder aus der Totalrevision der Bundesverfassung noch aus dem Solidaritätsprojekt. Aber dieser Misserfolg kümmert mich hinterher auch nicht. Ich habe eine Erfahrung gemacht, für die ich meinem Land ausserordentlich dankbar bin. Es war die Beteiligung oder auch Zulassung zu einem Diskurs auf der entscheidenden Ebene nationaler Selbstfindung.

Der Weg war also wichtiger als das Ziel?

Ja, aber so ist es, mit Verlaub, eigentlich mit allem, so ist es sogar mit der Regierungstätigkeit, die, wie es so schön heisst, Resultate zeitigt. Die Früchte sind gewöhnlich ganz andere, als diejenigen gemeint haben, die die Bäume gepflanzt haben.

Sie haben einmal gesagt, der Deutschschweizer sei «von Haus aus schweizerischer Staatsbürger und deutscher Kulturbürger», und haben in diesem Zusammenhang von einer «doppelten Loyalität» gesprochen. Welche Erfahrungen als «deutscher Kulturbürger» haben den «schweizerischen Staatsbürger» Adolf Muschg geprägt? Wie haben Sie diese «doppelte Loyalität» erlebt?

Vorweg ist zu bemerken, dass man in der französischen und italienischen Schweiz nie daran denken würde, die Frankophonie bzw. die Zugehörigkeit zum italienischen Kulturkreis zu verleugnen. Im Gegenteil: man ist stolz darauf. Der Sonderfall der deutschen Schweiz beschäftigt mich nachhaltig. Denn bedeutende Quellen unserer sogenannten Identität, von Gottfried Kellers Gedicht «O mein Heimatland» bis zur Bundesverfassung und dem Zivilgesetzbuch, sind hochdeutsch verfasst, und unsere Zeitungen sind immer noch hochdeutsch geschrieben. Dass das Hochdeutsche fast aufgehört hat, eine von Deutschschweizern gesprochene Sprache zu sein, ist ein Anzeichen dafür, dass man es nicht mehr als Teil der eigenen, unverlierbaren und kostbaren Erbschaft betrachtet. Wir können nicht den Weg Hollands gehen, das eine Weltmacht war und eine eigene Literatur hatte. Die Wahl zwischen Englisch und Schweizerdeutsch ist für mich eine Option für die kulturelle Provinzialität.

Welche persönlichen Kontakte über die Sprachgrenzen innerhalb der Schweiz waren und sind für Sie wichtig?

Für mich war es die Gruppe Olten, weil das ein kleiner Schriftstellerverband mit einem hohen Grad von Interaktion und Beteiligung war. Dort sind Roger-Louis Junod, Franck Jotterand oder Nicolas Bouvier zum ersten Mal wirkliche Kollegen geworden, übrigens bevor ich sie gelesen hatte. Und darauf habe ich sie gelesen, und das war eine sehr schöne Erfahrung. Orelli gehörte auch dazu, Giovanni Orelli, Giorgio habe ich später kennen gelernt. Wir hatten ein gemeinsames politisches Spektrum und haben uns dann, was ja wahrscheinlich der schweizerische Weg ist, auch literarisch angefangen zu respektieren.

Sie haben 1990 eine Sammlung kritischer politischer Betrachtungen unter dem Titel Die Schweiz am Ende, am Ende die Schweiz: Erinnerungen an mein Land vor 1991 veröffentlicht. Was hat sich Ihrer Meinung nach seither verändert, in der Schweiz, aber auch in Ihnen selber?

Es hat sich nicht weniger verändern können als in der ganzen übrigen Welt. Die erwähnten Texte waren ja fast alle noch vor der Wende geschrieben worden. Etwas pauschal ausgedrückt: in gewissem Sinne hat sich die Schweiz seither gewaltig entspannt. Wir sind in dieser Hinsicht ein bisschen in der Lage wie im vorletzten Jahrhundert Gottfried Keller im Roman Martin Salander , wo das Fazit lautet: «C'est chez nous comme partout». Dass sich angesichts dieser Annäherung an die globalen Verhältnisse jetzt eine nationale Opposition meldet – die es ja schon damals gab, in der Gestalt Blochers – ist kein schweizerisches Phänomen, auch keines, dem ich so monolithisch entgegentreten könnte wie damals. Ich verstehe, warum man Globalisierungsgegner sein kann, und ich verstehe, warum man den Ersatzkult des Nationalen pflegen kann. Ich verstehe, dass man etwas zu verteidigen hat, was mit Ort und Zeit der eigenen Geschichte zusammenhängt. Nur glaube ich, und das unterscheidet mich weiterhin von Blocher von damals, dass wir genau dieses Gefühl mit so vielen Menschen auf diesem Globus teilen, dass wir es nicht nötig haben, eine nationale Bewegung daraus zu machen. Wir hätten es sehr viel nötiger, kosmopolitisch zu werden. Kosmopoliten sind nicht Globalisierer, sondern es sind im Grunde bis ins Mark Föderalisten.

Viele Ihrer literarischen Texte werden im Titel oder im Untertitel ausdrücklich als «Liebesgeschichten» bezeichnet. Oft sind das Geschichten einer – nach herkömmlichen Massstäben – gescheiterten Liebe. Bedeutet Liebe immer auch eine Verletzung?

Liebe ist ein so merkwürdiges Phänomen, weil sie von den Beteiligten die alleranspruchsvollste Leistung verlangt, nämlich etwas anderes zu lieben als sich selbst. Wir müssen bereit sein, unsere Grenzen zu überschreiten. Die Ehe z.B. ist zwar das Errichten einer gemeinsamen Grenze, aber innerhalb dieser Grenze gibt es fast jeden Tag neue Grenzen auszuhandeln. Wenn man das nicht tut, dann erstarrt die Ehe und ist tot. Der Prozess, den wir Liebe nennen, läuft nicht ohne Konflikte ab, und Konflikte sind verletzend.

Ihr Opus magnum, der 1000-seitige Parzival-Roman Der Rote Ritter , ist ebenfalls ist eine Liebesgeschichte, zugleich die Geschichte einer Verletzung, einer Krankheit. Im richtigen Augenblick die richtige Frage zu stellen, das steht im Zentrum des Parzival- und Gralsgeschehens. Lässt sich das auch auf Ihr Leben und Schaffen übertragen, die richtige Frage zu stellen …

… statt die falsche Antwort zu geben. Wir sind antwortsbedürftig, wir suchen in ganz vielen Lebenssituationen klare Antworten. Das geht von der medizinischen Diagnose, wo wir sie nicht immer vertragen, bis zur Eheschliessung, wo wir sie verlangen und genau wissen, dass dieses Ja, auch wenn es fromme Brautleute abgeben und vor Gott sprechen, sie auch überfordert. Und damit sind wir beim Punkt: Wir kommen, wir wissen nicht woher. Wir gehen, wir wissen nicht wohin. Wir sind am Anfang und am Ende unseres Lebens weit offene Fragen, und es wäre merkwürdig, wenn dazwischen eine Strecke patenter Antworten wäre. Und wir sollten nicht so tun, als hätten wir immer Antworten auf diese Fragen.

Viele Ihrer Erzählungen und Romane weisen Merkmale des Kriminalromans auf, so auch Ihr 2005 erschienener Roman Eikan, du bist spät, den der Kritiker Heinz F. Schafroth als « Japan-Variante des Parzival-Stoffes» bezeichnet. Könnte man, überspitzt formuliert, die Suche nach der sogenannten Wahrheit im Kriminalroman als eine Art Gralssuche bezeichnen?

Ja, es ist gewissermassen eine elegante Trivialform der ganz fundamentalen Fragen. Natürlich gibt es Kriminalromane, die ganz einfach gestrickt sind: es gibt einen klaren Mörder, es gibt das Böse in der Welt, in irgendein paar Leuten verkörpert es sich, und wenn diese dingfest gemacht worden sind, haben wir die Lösung. Aber da unterscheiden sich die Lebensansprüche. Ich erlebe die Welt nicht so, und die Lösung wird dann für mich ersetzt durch die gute Frage. Als ich am Poly war, habe ich mich von meinen naturwissenschaftlichen Kollegen, jedenfalls von den rein empirischen oder rein pragmatischen, meistens dadurch unterschieden, dass ich gesagt habe: mit jeder Lösung, die ihr findet, werden die Fragen grösser, ihr eröffnet exponentiell neue Problemräume.

You are still confused, but on a higher level of confusion?

Ja, genau. Und heute würden die meisten Wissenschaftsphilosophen das zugeben.

Sie haben ein sehr grosses Œuvre geschaffen. Sie veröffentlichen regelmässig Bücher und Aufsätze, halten Vorträge, nehmen an Tagungen teil – wie bewältigen Sie dieses grosse Arbeitspensum?

Die Rechnung bezahlen viele andere Tätigkeiten und leider auch die damit verbundenen Menschen, Freunde, Freundinnen, die bei dieser Kadenz auf der Strecke bleiben. Ich bemerke immer wieder, und im Alter mehr, dass ich eine geringe soziale Kultur habe. Ich vernachlässige meine besten Freunde, wenn mich ein Projekt gepackt hat. Die wunderbare Zeiteinteilung, die – um grosse Namen zu nennen – Goethe oder Thomas Mann hatten, geht mir vollkommen ab. Ich bin, wie mir meine Frau gelegentlich vorwirft – der einzige Vorwurf, dem ich nichts entgegenzuhalten habe – ein Einzelkind gewesen, und die sind an den Kokon gewöhnt und nicht an Gesellschaft.

Thomas Feitknecht (geboren 1943), Germanist, 1990–2005 erster Leiter des Schweizerischen Literaturarchvis (SLA) in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern.