Mariella Mehr
«Denn der Morgen war nicht zum Lächeln geboren»

Von Anna Ruchat

Es ist sicher gut, daß die Welt nur das schöne Werk, nicht auch seine Ursprünge, nicht seine Entstehungsbedingungen kennt; denn die Kenntnis der Quellen, aus denen dem Künstler Eingebung floß, würde sie oftmals verwirren, abschrecken und so die Wirkungen des Vortrefflichen aufheben.
Thomas Mann, Tod in Venedig

«Ich weiss, ich bin ein widersprüchliches Wesen. Ich bin so katholisch aufgewachsen, dass ich mich oft selbst am Kreuz verbluten sehe. Gleichzeitig sehne ich mich nach unbändigen Zeiten, Freundschaft und Freiheit.» So schrieb Mariella Mehr mir, ihrer Übersetzerin, die von ihr ‹nur› das Werk kannte, vor einigen Monaten in einem langen, offenherzigen Brief. In diesem versuchte sie mir das ungestüme Pendeln zwischen Gegenwart und Erinnerung, zwischen einer überbordenden, furchterregenden Innenwelt und einer leeren, flachen Aussenwelt zu schildern, zu erklären. Eine Welt, die in ihrem beständigen Streben nach einer beruhigenden Norm immer weniger dazu befähigt ist, die Widersprüche, den Schmerz, das beschmutzte, aber reiche Leben eines Menschen anzunehmen, der sich der Verantwortung für die eigene Geschichte nicht entziehen konnte – und dies später auch nicht mehr wollte–, eines Menschen, der ständig die Balance zwischen einem Exil der Worte und den Blockaden des Lebens hält.

Mariella Mehr kam 1947 in Zürich in einer Familie jenischer Herkunft zur Welt. Als Opfer der von der Stiftung Pro Juventute organisierten Aktion «Kinder der Landstrasse» wurde sie bereits in frühester Kindheit der Mutter entrissen und in die Obhut von Pflegefamilien, Heimen und psychiatrischen Anstalten gegeben. Sie erfuhr Gewalt, wurde mit Elektroschocks behandelt und mit achtzehn Jahren, ebenso wie ihre Mutter, zwangssterilisiert und ihres Kindes beraubt. Mariella Mehr hat sich bis zum Alter von sechs Jahren in absolutes Schweigen gehüllt. Sie weigerte sich zu sprechen, wie sie selbst sagt, um gegen eine Welt aufzubegehren, die sich ihrer unablässig bemächtigte und ihr gleichzeitig die grundlegendsten Bedürfnisse – die Mutter und deren Sprache – verweigerte. Mariella Mehr kannte als Kind nicht einmal den Klang ihrer Muttersprache, denn das Programm zur Vernichtung der Lebensform des fahrenden Volkes sah vor, dass das Romanès auf Schweizer Boden nicht gesprochen wurde. Möglicherweise ist es gerade diese Sprachverweigerung, aus der die äusserst harte Sprache Mariella Mehrs erwächst.

In einem Interview von 1995, kurz nach Erscheinen von Daskind , beklagt die Autorin die Tatsache, dass ein allzu starkes Wohlwollen gegenüber der Figur des Opfers das Publikum abstumpfe. Das im 20. Jahrhundert und auch für Mariella Mehr so zentrale Thema der Gewalt wird verflacht, wenn eine Kultur die Sprache als Archivierung der Wirklichkeit konzipiert und das Wort die Bewegung erstickt.

Die Schweizer Autorin jenischer Herkunft vollzieht dagegen eine wahre Revolution der Sprache, sie befreit das Wort in seinem Kern – ein Wort, das «nicht in seinem Sinn, nicht in seiner Wortmaterie», sondern in seinem Gebrauch mit der Norm bricht, um mit Foucault, dem geistigen Vater der Trilogie der Gewalt zu sprechen, die neben Daskind (1995) auch Brandzauber (1998) und Angeklagt (2002) umfasst. Mariella Mehr erschliesst sich und uns den Zugang zu jenen verschlungenen Sprachpfaden, die das (historische, allegorische und persönliche) Gedächtnis lebendig zu halten vermögen. Zweigleisig, über den Weg der Fiktion und durch das direkte Zeugnis, entwirft sie eine Art anthropologische Karte der Grenzen, die sie nicht etwa aus einer psychologischen Perspektive, sondern mit einer erbarmungslosen, bis an den Grund des Sagbaren reichenden, emotionalen Tiefe skizziert. Die Prosa von Daskind , die sich ständig am Abgrund des Schweigens bewegt, zwingt uns, mehr als alle anderen Texte von Mariella Mehr, in jenem unsinnigen System von Antworten zu verharren, das jenseits der Grenzen der Entmündigung beginnt, aus der heraus Daskind geboren wurde. In jenem Niemandsland einer ausgedörrten Sprache, die weder Personen noch Handlungen, sondern allein die Leere beschreibt, die eine gescheiterte Existenz zurücklässt, und die der Sinnentleerung durch den Wahn sehr nahe kommt. Wenn es also in dem Roman einen autobiografischen Hintergrund gibt, so besteht dieser nicht in der erzählten Handlung, sondern in der Wahrnehmung der Umwelt, in der Art der Interaktion der Figuren und vor allem in der grundlegenden Beziehung des Kindes zur Welt. Aus der Entbehrung erwächst die Kraft einer Sprache, die die Konsistenz von Stein hat: keinerlei Konzessionen an das ferne ‹Reich der Ästhetik›, keine Beschönigung der Erfahrung zu Gunsten des Stils, keine «Zimperlichkeiten gegenüber der lebendigen Materie, gegenüber der Schwere des Lebens, dem Schmerz, dem Übel», wie der Schriftsteller Antonio Moresco sie auf dem Festivaletteratura 2006 in Mantua vorstellte. Die Sprache, die man ihr gewaltsam mit Elektroschocks entriss, ist dieselbe, die wir heute in ihren Büchern finden: eine aus einem Gewaltakt geborene Sprache, die selbst wiederum diese Gewalt zu beschreiben vermag, eine allübergreifende Gewalt, die gegen die «Überflüssigen», die Migranten, die in irgend einer Form Andersartigen gerichtet ist, eine verdeckte Gewalt, die entsteht, «wenn eine Tragödie zur Statistik wird», wenn die Gleichgültigkeit über das Leid ganzer Generationen siegt.

Seit 1998 finden sich neben dem erzählerischen Werk auch Gedichte von Mariella Mehr. Sie gleichen einer visionären, bisweilen halluzinierenden Bitte um Gehör, sie sind ein Schrei, der oft bis an die Grenzen des Wahns vordringt und der auch in den Versen einer anderen Dichterin der Vertreibung und Verfolgung, Nelly Sachs, zu vernehmen ist. Ein Schmerzensschrei, der, wie bei Nelly Sachs, keinen Trost in der Sprache sucht, sondern sich der Waffe des Widersinns bedient, um in Landschaften und Körpern Sinn aufleuchten zu lassen und sich einen Weg durch die erbarmungslose Wirklichkeit zu bahnen: « O die Schornsteine / Auf den sinnreich erdachten Wohnungen des Todes, / Als Israels Leib zog aufgelöst in Rauch / Durch die Luft / Als Essenkehrer ihn ein Stern empfing / Der schwarz wurde / Oder war es ein Sonnenstrahl?» schreibt Nelly Sachs 1947 im Gedicht « In den Wohnungen des Todes» und Mariella Mehr antwortet: «Mein Aschenengel. / Eben noch streunte er hungrig / durch Stundenschrunden, / ein Weh ohnegleichen / im alternden Blick. // Nun hat ihn die Nacht erlöst / (im Körbchen ausgesetzt vielleicht) / als junges Schneekorn, / oder als Vogel im Haar / des Ausgefremdeten».

Den Spuren von Nelly Sachs und sicherlich auch denen von Paul Celan folgend, erkundet Mariella Mehr auf der Landkarte des Textes ihre Narben und streckt ihre Luftwurzeln hinein in das Wort. Doch wieder einmal ist es der Abstand zwischen der Sprache und einem ihr sich verschliessenden Anderswo, den Mariella Mehr zu beschreiben beabsichtigt. «Und auf der Himmelskarte / bin ich nicht vorhanden», sagt die überall Fremde und fragt: «Wann, Brudergestirn, sag mir, wann / wird Schnee in mein Herz einfallen, und / wann Bruder, sag, / das Wort mich endlich verstehen?» Mariella Mehr, die, ebenso wie die genannten Autoren, Angehörige eines umherirrenden Volkes ist, beharrt darauf den Schatten nachzuspüren und bohrt unermüdlich im Gedächtnis ihres Volkes, um es in neuer Form – erstarrt oder von Wunden gezeichnet –, noch immer ausgegrenzt, aber durch die atavistische Kraft, von der ihre Verse durchdrungen sind, erkennbar, wieder aufleben zu lassen.

Mariella Mehr blickt zweifellos auf eine sehr bewegende Biografie zurück, aber ebenso wie bei David Grossmann, Primo Levi oder Agota Kristof ist es nicht die Biografie, die aus ihr eine grosse Schriftstellerin macht. Es ist eher der ‹Zufall›, der Dämon des Schreibens, ein «Aschenengel», dem sie sich beugen, sich unterwerfen und dabei unaufhörlich zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her pendeln muss, um so eng wie möglich auf jener Spur zu bleiben, die entlang der so vielversprechenden Berührungslinie zwischen Leben und Literatur verläuft. «Zukunft? / Sie spricht mich nicht los, / mich Schiefgeborene. / Komm, sagt sie, / der Tod ist eine Wimper / am Lid des Lichts».

 

Gespräch

In Ihren Gedichten finden sich viele Elemente, die an das Thema der Nicht-Sesshaftigkeit geknüpft sind, aber sie leben seit Jahren in der Toskana. Offenbar haben Sie eine nicht-sesshafte Seele: Begriffe wie «Luftwurzeln», des «überall Fremden» deuten es an – was ist für Sie das Exil?

Ich habe Luftwurzeln, da es mir in den Jahren meiner Kindheit und der ersten Sozialisation niemand ermöglicht hat, mich zu Hause zu fühlen, Boden unter den Füssen zu spüren. Zunächst war das für mich das Exil. Später war es dann Italien, denn ich bin hierher gekommen, weil ich in Chur und anderswo in der Schweiz, wo ich als Kommunistin bekannt war, wiederholt Übergriffe von Neonazis erleiden musste.
Aber Exil bedeutet für mich heute nicht nur das Exil aus der Schweiz, die ganze Welt ist für mich Exil. Wo fühlt man sich wirklich wohl? Wo fühlt man sich am ganzen Leib und im Kopf wohl, im Einklang mit sich selbst?

Der Roman Daskind hat Sie grosse körperliche und seelische Anstrengungen gekostet. Lässt sich dem Thema der Gewalt auch auf einer anderen Ebene als der des Verstandes begegnen?

Ja, Gewalt ruft in mir vor allem Wut, Scham, Trauer, Schmerz und Angst hervor. Angst davor, dass sich diese Gewalt wiederholt, dass ich mich, wie die meisten Opfer von Gewalt, von dieser Demütigung nur selbst mit Gewalt befreien kann, indem ich mich räche und den anderen Gewalt zufüge, so dass man schliesslich nie aus diesem Teufelskreis herausfindet. Heute interessiere ich mich für die Gewalt in der gesamten Welt. Wie lässt sich diese Gewalt in eine andere Form der Kommunikation verwandeln, so dass man miteinander reden und die Probleme sehen kann, die wir gemeinsam haben?

In Ihren Büchern zeigen Sie immer wieder die Grenzen der Erfahrung auf, was heisst es für Sie, Erfahrung durch die Kunst zu vermitteln?

Alle Geschichten, auch die erfundenen, entspringen der persönlichen Erfahrung (und meine Erfahrungen sind fast alle ungewöhnlich). Jedes Mal wenn es mir deshalb gelingt, eine ungewöhnliche Geschichte zu erzählen, eine Geschichte also, in die der Leser einbezogen wird, weil er Teile von sich und seiner Umwelt wiederfindet, glaube ich, ein gutes Buch geschrieben zu haben. Denn das bedeutet, dass es mir gelungen ist, den Leser zu warnen, dass das Ungewohnte, das Unmenschliche in jedem Augenblick zu einer degenerierten Norm werden und ihn persönlich bedrohen kann.

Ihre Werke haben immer eine sehr stark autobiografische Komponente. Inwieweit ist für Sie Literatur etwas Politisches?

An einem bestimmten Punkt habe ich beschlossen, mich nicht länger als Opfer zu fühlen und eine Schriftstellerin zu werden, die sich jenseits ihrer persönlichen Geschichte behaupten muss und als solche beurteilt wird. Das befreit mich allerdings nicht von meiner eigenen Erfahrung und auch nicht von meinem Mitgefühl gegenüber den anderen Opfern unserer Gesellschaft. Wenn man zugibt, dass ich meine Texte für sie, für die anderen Opfer schreibe, die ähnliche Erfahrungen gesammelt haben wie ich, wenn ich für die Unterdrückten und Ausgegrenzten schreibe und gegen die Verantwortlichen jeglicher Gewalt, dann sind meine Texte politisch. Ich hoffe, bisher nur wenig Unpolitisches geschrieben zu haben.

Wie hat sich der Übergang vom rein politischen zum literarischen oder gar poetischen Schreiben vollzogen, wenn alles was Sie schreiben politisch ist?

Ich glaube nicht, dass ich jemals etwas ‹rein Politisches› verfasst habe, nicht einmal als ich für die Zeitung schrieb. Noch viel weniger kann ich mir ein ‹rein literarisches› Schreiben vorstellen. In all meinen Texten, auch in den Gedichten, gibt es einen Ort (oder Nicht-Ort). Orte haben Koordinaten, die sie eingrenzen oder bestimmen, durch die sie eingebettet oder freigelegt werden, die sie in ein Verhältnis zu anderen Orten setzen; und in allen meinen Texten gibt es ein, bisweilen abwesendes, ‹ich›, ein ‹du› und ein ‹sie›. All diese Texte werden erst in dem Augenblick politisch, in dem derjenige, der sie liest, sie in Beziehung zu sich selbst und seiner Welt setzt. Ein extremes Beispiel in diesem Sinne ist Fabio Turchetti mit seinem Trio, das meine Gedichte vertont hat, um sie im Roma-Ghetto und im Teatro Fraschini in Pavia sowie später in Chiasso und Verbania zu präsentieren. Durch diese Interaktion mit der Gesellschaft haben, so hoffe ich, alle meine Texte politisches Potenzial. Deshalb ist auch ihre Übersetzung und Veröffentlichung in gewissem Sinne ein vorrangig politischer Akt.

In welchem Masse kann Literatur eine bestimmte Bevölkerungsgruppe aus ihren Verhältnissen befreien?

Vor allem Minderheiten bedürfen einer Elite, die sie repräsentiert und ihnen als Sprachrohr dient. Damit meine ich nicht nur die Schriftkultur eines Volkes, auch das Mündliche ist sehr wichtig. Die mündliche Kultur der Sinti und Roma ist äusserst reichhaltig, aber sie wird nunmehr nur noch in Tschechien und der Slowakei, in Rumänien und in Indien aufrechterhalten. Natürlich wäre es sehr wichtig, dass jemand diesen Kulturschatz rettet. Die Juden brauchten diese Elite (nicht nur Schriftsteller, auch Mediziner, Anwälte, Philosophen …), genau wie das Volk der Roma auch. Und der seit einigen Jahren existierende Roma-Schriftstellerverband weist genau in diese Richtung. Ein Volk mit einer intellektuellen Elite ist in der Lage, sein eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen und sich zu befreien. In diesem Sinne glaube ich an die befreiende Funktion dessen, was ich schreibe. Ein Volk mit einer eigenen Literatur, Musik, Malerei, Bildung und Wissenschaft hat bessere Chancen, sich eine auch von anderen akzeptierte Identität zu verschaffen. Ich leiste meinen Beitrag zur Roma-Literatur und ich hoffe, dass sie zu einer Brücke zwischen den Roma und den Gage [den Nicht-Roma, Anm. d. Übers.] wird.

Sie leben heute in Italien, sprechen Italienisch. Ist Italien für Sie ein Land wie andere Länder auch, oder haben Sie Ihre Wahl aus einem ganz bestimmten Grund getroffen?

Ich liebe den Süden, die Wärme, die Fröhlichkeit, das Lachen und das Lächeln der frühen Kirschblüten. All das bietet Italien in grosser Fülle. Ausserdem glaube ich, dass meine Bücher, die sich durch eine starke Emotionalität auszeichnen, eher mit dem italienischen als mit dem nordeuropäischen Publikum vereinbar sind. Der Norden hat kaum Zugangsweisen zu Texten von grosser emotionaler Wirkung, wie die von Pasolini, zum Beispiel, oder von Pavese …

In welchem Verhältnis steht für Sie das Schreiben von Romanen zum Schreiben von Gedichten?

Ein Roman bedeutet Mühe. Man sieht immer die Fehler, sobald ein Roman beendet ist, man ist nie wirklich zufrieden. Ein Gedicht dagegen macht dich glücklich. Du schreibst es, überarbeitest es und sagst dann, das ist das Beste, was ich im Moment von mir geben kann. Das ist ein Glücksgefühl.

Übersetzung von Franziska Kristen

Anna Ruchat ist Übersetzerin aus dem Deutschen (Mariella Mehr, Thomas Mann, Victor Klemperer, Paul Celan, Nelly Sachs etc.) und Schriftstellerin (vgl. das Porträt in Feuxcroisés  8, 2006)