Eveline Hasler

Von Corinna Jäger Trees

Eveline Hasler kommt 1933 in Glarus zur Welt, wo sie einen Teil ihrer Kindheitsjahre verbringt. Nach der Mittelschule studiert sie Psychologie und Geschichte in Fribourg und Paris und ist danach einige Zeit als Sekundarlehrerin in Altstätten und Zug tätig. Von 1958 an lebt sie mit ihrem Mann und den Kindern in St. Gallen; seit nunmehr 16 Jahren ist das Lebenszentrum der Schriftstellerin Ronco s. Ascona im Tessin.

Bereits von 1967 an publiziert Eveline Hasler literarische Texte, zunächst für Kinder. Ihre Erzählung Hexe Lakritze mit den Illustrationen von Peter Sis (spätere Ausgabe illustriert von Ulrike Mühlhoff) ist weithin bekannt. Auch Komm wieder, Peppino oder Im Traum kann ich fliegen sowie Die Blumenstadt gehören zu den Klassikern der Kinderbuchliteratur.
1979 tritt sie erstmals mit einer Erzählung für Erwachsene an die Öffentlichkeit: Novemberinsel . Ab 1982 folgen in regelmässigen Abständen ihre bislang neun Romane, die, in zahlreiche Sprachen übersetzt und teilweise verfilmt, die Autorin weit über die Schweizer Grenzen hinaus bekannt gemacht haben. Darüber hinaus hat Eveline Hasler mehrere Gedichtbände publiziert und zum Teil selber illustriert – verdichtete sprachliche Formen, welche Grundgedanken ihrer Romane aufgreifen.

Eveline Hasler hat für ihr Schreiben zahlreiche Preise erhalten, u.a. den Schweizerischen Jugendbuchpreis (1978), einen Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung (1980), den Premio Critici in Erba, Bologna (1988), den Schubart-Literaturpreis Baden-Württemberg (1989), den Meersburger Droste-Preis für Autorinnen (1994), den St. Galler Kulturpreis (1995), den Justinus-Kerner-Preis (1999).

 

Eveline Hasler Auf Wörtern reisen

Auf Wörtern reisen

Im Zimmer sitzen
und auf Wörtern reisen

Auf Sätzen durch verschlossene Türen fliegen

Herzen
aufschliessen mit dem
Schlüssel Wort

Fluchen, segnen, hassen, lieben
alles
wortwörtlich

Das Grenzen sprengende Wort, wie es in diesem Gedicht aus dem gleichnamigen Band evoziert wird, bedeutet für Eveline Hasler nicht nur die Reise in andere Wirklichkeiten durch das Schreiben; Entgrenzung ist auch das all ihren Protagonisten gemeinsame Charakteristikum: Ausnahmslos versuchen sie, gegen ihre Zeit und deren Normen, gegen ihre Gesellschafts- und Bildungsschicht, gegen ihre Geschlechterrollen anzukämpfen, Grenzen zu überschreiten, neue, unzeitgemässe Lebensformen und innere Welten zu erschliessen oder Utopien zu verfolgen. Derart umwälzende innere Reisen spiegeln sich in der Landkarte der Wirklichkeit, und so treffen wir als Leserinnen und Leser diese Protagonisten denn auch an den unterschiedlichsten Orten auf dem Globus an: vom hintersten Winkel im Glarnerland geht es nach Stuttgart und Wien, vom Bündner Seitental zu einer brasilianischen Kaffeeplantage, von Zürich nach New York, von Genf auf die Schlachtfelder von Solferino.

„Das Schweigen / der Totgeschwiegenen / kauert / zwischen den Wörtern / jener / die noch reden / dürfen“, heisst es im Gedicht Das Schweigen , das ebenfalls der Sammlung Auf Wörtern reisen entnommen ist.

Es liefert einen weiteren Schlüssel für den Zugang zu Eveline Haslers Werk. Sie erläutert darin in einprägsamen und unkonventionellen Bildern, was sie in ihren Romanen in Prosaform ausformuliert hat: Es gilt, die schriftstellerischen Möglichkeiten dafür zu nutzen, das Schweigen der Totgeschwiegenen zu brechen – das heisst, das Ausgesparte, das Vergessene, Verdrängte aufzuarbeiten, den Lebensmustern Ausgestossener Gestalt zu verleihen und ihnen eine Stimme zu geben.

Die Autorin lässt in ihrem Werk Aussenseiterinnen und Aussenseiter zu Wort kommen, die aufgrund von Charakter, Bildung, Unkonventionalität oder Ideenreichtum Wesentliches zu sagen gehabt hätten, die aber in einem verfrühten Zeitalter geboren wurden, das ihrer Fantasie, ihrer Kreativität, ihrem Intellekt und ihrem Weitblick nicht gewachsen und gemäss war. Sie mussten ihre Ambitionen oft mit psychischem oder gar physischem Tod bezahlen. So wandelt sich der Wunsch Anna Göldins nach einem ruhigen Leben aufgrund falscher Anschuldigungen zum Tod auf dem Scheiterhaufen ( Anna Göldin. Letzte Hexe ); der Traum der Bündner Auswanderer von einem eigenen Stück fruchtbarer Erde führt nicht ins brasilianische Paradies von Ibicaba, sondern endet im Sklavenhof von Santos ( Ibicaba. Das Paradies in den Köpfen ); die kindlichen Fantasien von Katharina und zwei anderen Kindern wird zu einer endlosen Odyssee von Leiden, die auf dem Schafott enden ( Die Vogelmacherin ); die weitsichtige Emily Kempin Spyri wird eingesperrt in eine winzige Kammer der Psychiatrischen Heilanstalt Friedmatte ( Die Wachsflügelfrau ); und der ungebremste Altruismus Henry Dunants dreht sich gegen ihn selbst und gibt ihn der Lächerlichkeit preis ( Der Zeitreisende ).

Nachdem sich Eveline Hasler bereits seit den späten Sechzigerjahren als Kinderbuchautorin einen Namen gemacht hat, erscheint 1979 die Erzählung Novemberinsel , ihr erstes literarisches Werk für Erwachsene, die Lebensbilanz einer jungen Frau. In der Zeit der Auseinandersetzung der Schweizer Schriftstellerinnen mit ihrer eigenen Identität geht Eveline Hasler jedoch bereits mit ihrem ersten Roman neue Wege. Sie wendet sich historischen Stoffen zu und findet in der biographie romancée zur ihr gemässen Gattung. Diese führt sie in der neueren Schweizer Literatur wieder ein und pflegt sie all die Jahre hindurch. Sie gestattet die Verknüpfung ihrer beiden grossen Interessenssphären, der Psychologie und der Historie: „Es ist mein Interesse für die Psychologie, das mich zur Geschichte gebracht hat. Mein Standpunkt ist immer ein psychologischer. Aber ich hätte nie gedacht, dass ich mich einmal dem historischen Roman zuwenden würde,“ äussert Eveline Hasler in einem Interview mit dem Corriere del Ticino .

Hexen, Intellektuelle und eine Dichterin, ein Riese und ein Visionär: ausgefallene Existenzmuster

Eveline Hasler beschäftigt sich in ihrem ersten Roman Anna Göldin, letzte Hexe von 1982 mit einer Randständigen, Geächteten, Dämonisierten, Verfolgten – kurz gesagt: mit einer *hagazusa*, wie es im Althochdeutschen hiess – was ‚Zaunreiterin' bedeutet. Dies verweist auf eine Person, die sich zumindest mit einem Bein auf der anderen Seite der – gesellschaftlich akzeptierten – Norm befindet.
Anna Göldin wird der Hexerei bezichtigt und als letzte Hexe Europas 1782 in Glarus hingerichtet. Es geht der Autorin in dieser Biographie nicht so sehr um die Lebensdarstellung dieser Magd; wichtig ist ihr vielmehr das Aufdecken der inneren Realität einer Frau ohne gesellschaftliche Position, also um das Hexesein aus ihrer Sicht.
In erster Linie sind Frauen die Opfer von Hexenjagenden – ein trauriges Kapitel europäischer Geschichte. Aber nicht selten enden auch dämonisiert geglaubte Kinder auf dem Scheiterhaufen. Dem Schicksal der sogenannten Kinderhexen geht Eveline Hasler in Die Vogelmacherin (1997) nach: Die elfjährige Katharina Schmidlin wird 1652 verbrannt, weil sie behauptet hat, Vögel aus Lehmklumpen machen zu können. Sie und unzählige andere Kinder wurden auf dem Altar einer irrigen Inquisition geopfert.
Julie Bondeli, die berühmte Gelehrte und Bekannte Hallers zur Zeit des Ancien Régime in Bern ( Tells Tochter. Julie Bondeli und die Zeit der Freiheit , 2004), die Dichterin Regina Ullmann und ihr Verhältnis zum Psychiater Otto Gross zu Beginn der Zwanzigerjahre in München ( Stein bedeutet Liebe. Regina Ullmann und Otto Gross , 2007) und Emily Kempin Spyri ( Die Wachsflügelfrau , 1991), die erste Schweizer Juristin, die ein Leben lang gegen männliche Vorurteile kämpft: Allen drei Frauen ist es nicht vergönnt, ihre Fähigkeiten angemessen und dauerhaft zu entfalten. Sie dringen in Bereiche vor, die entweder noch den Männern vorbehalten sind, oder brechen gesellschaftliche Tabus, an denen sie letztlich scheitern.
Auch Eveline Haslers männliche Protagonisten stehen ausserhalb der Normen ihrer Zeit. Der Riese im Baum (1988), damit ist der 2.30m grosse Melchior Thut aus dem hintersten Glarnerland gemeint, der zeitlebens ein Gefangener seines gigantischen Körpers bleibt. Sein Leben ist Demütigung, Marginalisierung, Ausgegrenztsein – nur die Natur bietet ihm ein Refugium.
Der zweite männliche Protagonist ist der vergessene Visionär Henry Dunant ( Der Zeitreisende , 1994), Gründer des Roten Kreuzes. Der Aufbau dieser weltumspannenden Institution und der Zusammenbruch von Dunants Geschäften mit den bekannten fatalen Folgen, nämlich dem Ausschluss aus seiner eigenen Institution, werden gründlich ausgeleuchtet. Abgestützt auf Tagebücher und Briefe erhält eine spannungsgeladene Persönlichkeit Konturen, die voll Energie ihre Utopien in Realität umsetzt, gleichzeitig auch von Ängsten heimgesucht wird und an der eigenen Überempfindlichkeit leidet.

Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Eveline Haslers breite Rezeption lässt sich an den hohen Auflageziffern ihrer Bücher und den zahlreichen Übersetzungen ablesen. Auf die Funktion von aussergewöhnlich intensiv rezipierten Büchern wie Biographien hat der Soziologe und Kulturkritiker Siegfried Kracauer in seinem Essay über Biographik von 1930 hingewiesen: Sie erfüllten Bedürfnisse des Lesers und trügen symptomatische Züge der Epoche, die es zu entschlüsseln gelte. Eveline Haslers Werke gehen jedoch über die Entschlüsselung der dargestellten Epoche hinaus, sie sind nicht Fluchtliteratur oder Museen für grosse Individuen, ihre Funktion erschöpft sich auch nicht im Identifikationsangebot für eine sinnentleerte Gegenwart. In all den Romanen ist die Bücke zur Gegenwart unüberhörbar. Die Figuren mit ihren Schicksalen samt den zeitgebundenen Verflechtungen interessieren hier und heute, weil sie indirekt Probleme, Vorurteile, Verdrängtes und Ängste der eigenen persönlichen und gesellschaftlichen Gegenwart reflektieren und bewusst machen und so zur Auseinandersetzung und Aufarbeitung anregen.

 

Gespräch

Unter Ihren Materialien im Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) – beispielsweise zu „Ibicaba oder Das Paradies in den Köpfen“ – sind äusserst interessante Funde zu machen, die auf eine ganz bestimmte Art des Schreibprozesses hindeuten: Kopien von Quellen wie z.B. eines Artikels über das Phänomen der Brasilienenauswanderer im 19. Jahrhundert finden sich da, oder die Kopie von „Der Kolonist. Organ für die schweizerische Auswanderung, insbesondere nach Nord- und Südamerika“ von 1837, schliesslich die Kopie eines Überfahrtsvertrages und Konvolute mit Fotos.
Wie gehen Sie beim Schreiben Ihrer Texte vor, wie sieht Ihr Arbeitsprozess aus?

Zunächst beschäftige ich mich tatsächlich intensiv mit den Fakten eines Stoffes, schliesslich bin ich ja auch Historikerin. Diese Faktensuche ist für mich eine Annäherung an die Koordinaten Ort und Zeit. Das heisst: Augenschein an den relevanten Orten meiner Stoffe nehmen und gleichzeitig die Suche nach den Primärquellen vorantreiben. Dabei besuche ich Archive und Bibliotheken, gehe verschiedensten Quellen nach – das ist in gewisser Weise eine detektivische Arbeit, und oft bin ich selber überrascht, wo mich ein Faden hinführt. Ich bin immer mehr zur Überzeugung gelangt, dass sich Orte mit Ereignissen aufladen. Nicht jede Geschichte wird an jedem Ort möglich, jeder Ort hat die ihm zugehörigen Geschichten, und jene Geschichten, die verdrängt werden, gehören ganz besonders zu diesem Ort. Auch habe ich festgestellt, dass die meisten Geschichten auf der Welt untereinander verknüpft sind. So ist es möglich, an einem entfernten Punkt der Welt nach einer Geschichte zu suchen. So habe ich zum Beispiel, als ich in Halifax auf meinen Abflug wartete, in der lokalen Bibliothek gestöbert und Briefe von Emily Kempin Spyri gefunden – meiner Protagonistin aus Die Wachsflügelfrau .
Nach ungefähr eineinhalb Jahren sorgfältigster Recherche erfahre ich immer wieder: Nichts ist phantastischer als die Wirklichkeit. Und in einer nächsten Phase geht es dann darum, meine historischen Recherchen mit all den Fakten in einen literarischen Text zu giessen. Dafür brauche ich nochmals etwa eineinhalb Jahre – ungefähr in diesem Dreijahresrhythmus sind meine Bücher erschienen, jedes Buch nimmt etwa drei Jahre meiner Lebenszeit in Anspruch.


Die Recherchen decken den historischen Teil ab, die aus Quellen einigermassen gesicherten Fakten. Nun schreiben Sie jedoch fiktionale Texte. Wie verhält es sich mit dem Verhältnis zwischen Fakten und Fiktion?

Ich hatte ja ursprünglich Geschichte und Psychologie studiert. Es war mir aber von Anfang an klar: Ich wollte keine historischen wissenschaftlichen Texte schreiben, es ging mir nicht um die Darstellung von Ereignissen, abgeschottet im Elfenbeinturm historischer Wissenschaft. Was mit meiner Gegenwart nichts zu tun hat, interessiert mich nicht. Schon bei der ersten Begegnung mit Geschichtsmaterial wurde mir klar: Wenn ich mich in einen inneren Dialog mit dem vergangenen Stoff begebe, so entsteht etwas wie eine Zeitbrücke, es lassen sich Muster der Gegenwart erkennen. Die Frage ist nun, wie man sich der (historischen) Wirklichkeit annähern kann. Da gibt es zum einen eben den sogenannten wissenschaftlichen Weg der akademischen Geschichtsforschung und zum anderen den künstlerisch-intuitiven Weg. Fast gleichzeitig mit meinen literarischen Texten sind zu den Themen einiger meiner Bücher historische Arbeiten entstanden, so z.B. zu Ibicaba . Eine Dissertation behandelt die Auswanderung Mitte des 19. Jahrhunderts nach Brasilien. 1 In historischen Betrachtungen werden anhand der Quellen äussere Umrisse gezeichnet, auch sind Statistiken und Zahlenmaterial wichtig. In meinen Arbeiten dagegen kommen mehr die psychologischen Hintergründe zum Tragen, die Schilderung des Alltags während der Überfahrt beispielsweise, oder die Befindlichkeit der Menschen, ihre Utopien. Beide Betrachtungsarten ergänzen sich.
Was nun den Arbeitsprozess betrifft, so weicht meine Faktensuche bewusst von akademischen Mustern ab. Meist kann ich auf diese Weise Funde machen und Innovatives zutage fördern, das sogar von der Geschichtsforschung übersehen worden ist, so das Portrait des Riesen Melchior Thut im Lavater-Archiv in Wien oder die Protokolle der Kinderhexen im Kantonsarchiv Luzern.


Wie geht dieser Fiktionalisierungsprozess vonstatten?

Die Schwierigkeit besteht zunächst darin, dass man unter der Fülle der gesammelten Fakten nicht erstickt, dass das Geröll der Fakten nicht den eigentlichen Gehalt der Geschichte zudeckt. Bei der Arbeit an Anna Göldin realisierte ich, dass ich im Anschluss an die Recherchearbeit einen inneren Dialog mit den Fakten begann, ich meditierte die Ereignisse, sprach mit den Protagonisten, auf diese Weise entstanden innere Filme, Szenen. Ich bin ein optischer Typ, habe Affinität zu Bildern, zu Filmen. Ich frage mich: Welche Szenen transportieren die Essenz meiner Geschichte? Die Szenen nähren sich von den Fakten, die Dialoge dagegen von den Gedanken, der spezifischen Sprache der Protagonisten. Der Plot einer Geschichte tastet sich vorwärts, und diese Dramaturgie ist der erste Schritt in die Fiktion.

Das Leben ist nun aber nicht einfach ein Strang, an dem sich die Szenen aufreihen. Nach sechzig Seiten Anna Göldin in chronologischer Reihenfolge erkannte ich, dass mit dieser Technik die Geschichte verfälscht wird. Sie lebt von Unterströmen, ist ein Gewebe. Das Aufbrechen der Chronologie gehört also zu den wichtigen Mitteln der Fiktionalisierung. Ich begann Anna Göldin neu, nämlich an der zentralen Stelle, wo Anna in Glarus ihre letzte Schicksalsstelle antritt. So konnte ich mit Rückblicken und Erinnerung arbeiten und auf diese Weise den Handlungsfaden sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft spinnen.

Ein wichtiges Mittel zur Sichtbarmachung einer Geschichte stellt die sprachliche Bearbeitung des Stoffes dar. Die Sprache vermittelt die Befindlichkeit der Figuren in ihrer Zeit. Die Göldin-Geschichte beispielsweise hat drei Sprachebenen: Annas Sprache ist diejenige der Unterschicht, sie ist dialektal geprägt; die Sprache der Oberschicht – mit französischen Ausdrücken durchsetzt – kommt bei der Familie Tschudi zur Anwendung. Und der Staat, der sich in Gerichtsprotokollen und dem Todesurteil äussert, wendet die umwundene Kanzleisprache des späten 18. Jahrhunderts an.

Zu den wichtigen fiktionalen Gestaltungsprinzipien gehören schliesslich die bildhaften Leitmotive, die jede Geschichte auf andere Weise suggeriert. Bei Anna Göldin sind es die Steine, die Felsbrocken, welche auf Annas Schicksal verweisen; der Hauptberg in Glarus, der Glärnisch, wird zum Symbol für versteinerte Autoritäten, die Anna beschuldigen. Die Wachsflügelfrau lebt vom Ikarus-Mythos, die Kempin wird zur weiblichen Ikarus-Figur.


Kommen wir nun auf die psychologische Dimension zu sprechen. Wie gehen Sie vor? Wie werden die Figuren, die man aus der Historie kennt, im Roman lebendig gemacht?

Sehr wichtig ist das Studium der zeitgenössischen gesellschaftlichen und geographischen Umgebung. Eine Figur kann nur geortet werden, indem sie in das soziologische, kulturelle und historische Gefüge ihrer Zeit eingeführt wird. Ausserdem braucht es Analogien zu anderen Figuren aus dieser Epoche, möglichst im Kontrast zur Hauptfigur. So stehen sich z. B. Anna Göldin und ihre Herrin, Frau Tschudi, in jeder Hinsicht diametral gegenüber – die soziale Schicht, das Äussere, ihre Gedankenwelt. Gerade im Kontrast mit Frau Tschudi wird Anna zu dem, was sie ist. Dies bestimmt auch die Dramaturgie des Textes: Anna hat ihren Auftritt in unmittelbarer Nachbarschaft von einem Gesellschaftsessen der Familie Tschudi, was den Kontrast erhöht.
Bei diesem Prozess der Figurengestaltung benütze ich selbstverständlich die Materialien, die sich mir aus dem Archivstudium erschliessen. Dabei versuche ich aber, mich in die Figuren einzudenken – dieser Prozess ist eine sehr intuitive Arbeit.


Sie haben sich mit Biografien beschäftigt, bevor diese literarische Gattung im Trend war wie jetzt. Sie waren in der Schweiz gewissermassen die Erste, die sich in dieser Art schriftstellerisch geäussert hat. Wie sind Sie zu dieser Form gekommen, was interessiert Sie an der
biographie romancée ?

Die wissenschafltiche Geschichtsschreibung zeichnet Umrisse; selten erfährt man etwas über psychische, innere Hintergründe, darüber, wie historische Ereignisse zustande gekommen sind. So wird beispielsweise ein Krieg geschildert, man erfährt aber nichts über das langsame Wachsen der Aggressionen in den Menschen. Die psychische Realität, das Ambiente, die genauso wichtig sind wie die Fakten und die äusseren Umrisse, werden dabei vernachlässigt. Diese Aspekte kann ein Roman aufdecken, sie können mit belletristischen Mitteln viel besser sichtbar gemacht werden.


Ihre Protagonistinnen sind meist begabte, sensible, eigenwillige und intelligente Frauen, die sich in ihrer Zeit nicht richtig eingliedern können, die ihr voraus sind und deshalb zumindest geächtet werden. Wie kommen Sie zu Ihren Stoffen?

Eigentlich kommt ja der Stoff zum Autor und nicht umgekehrt, wie bereits Golo Mann gesagt hat. Ein Stoff klopft an, das ist nichts Geisterhaftes, es geschieht wirklich so: etwas, was mich selber tangiert, kommt bei mir an, ich beschäftige mich damit, es klingt etwas an, gibt in mir eine Resonanz, ich fange an, darüber nachzudenken, versuche zu verstehen, ob ich eine geeignete Form dafür finden kann, ich verwerfe – oder mache mich irgendwann an die Arbeit.


Was interessiert Sie an historischen Themen?

Historische Ereignisse können besser gesehen und analysiert werden, weil sie aus der zeitlichen Entfernung klarer erscheinen. In ihnen kommt auch zum Ausdruck, dass kein Thema abgeschottet ist in der Vergangenheit, es sagt auch immer etwas Gegenwärtiges und sogar Zukünftiges aus. Ich kann mir meine Gegenwart besser erklären, wenn ich über Vergangenes nachdenke. Im Vergangenen werden mir die Muster der Gegenwart deutlich.


Das 18. Jahrhundert: Anna Göldin, Melchior Thut aus
Der Riese im Baum , Julie Bondeli. Was interessiert Sie besonders an dieser Epoche?

Es ist eine Zeit der Widersprüche, vielleicht ist es die letzte Epoche einer geschlossenen, klar strukturierten Gesellschaft. Es ist eine Zeit des Aufbruchs zu neuen Horizonten, dies ergibt unglaubliche Konstellationen von psychischen und historischen Ereignissen. Beispielsweise die völlig verschiedenen Lebensläufe von Anna Göldin und Julie Bondeli – sie kamen beide ungefähr zur gleichen Zeit auf die Welt.


Zwei Frauen: Anna Göldin und Julie Bondeli. Die mittellose Magd im Glarnerland und die behütete, intelligente Tochter aus einer Berner Patrizierfamilie. Beide sind Repräsentantinnen des 18. Jahrhunderts. Was trennt die beiden, was verbindet sie?

Die beiden Lebensläufe könnten nicht verschiedener sein, weil sich die Repräsentantinnen in völlig unterschiedlichen Schichten bewegen. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten: Ich spüre in beiden einen Drang zum selbständigen Denken und Handeln. Beide gefährden sich dadurch auf ihre je eigene Weise in der Gesellschaft von damals, die einer Frau ihre Rolle klar vorschrieb und ihr kaum Spielraum liess.


Im ersten Halbjahr 2008 war in den Medien die Auseinandersetzung mit den Ereignissen von 1968 sehr präsent. Sie gehören einer Generation von Frauen an, die in den Siebzigerjahren für die Freiheiten und Rechte der Frauen eingetreten sind. Sie sind ohne Frauenstimmrecht aufgewachsen und gehören zu den ersten Schriftstellerinnen in der Schweiz, die ihr Leben und ihre Rolle in der Literatur thematisiert haben. Was bedeutet Ihnen dieser Aufbruch?

Es wurde an allen erstarrten Strukturen gerüttelt, in Familie, Politik, Bildungswesen. Auch Frauen hinterfragten ihre Rolle und erstarrte Autoritäten wurden demaskiert. Es war eine ausgesprochen wichtige Zeit, sie geriet aber auch ausser Kontrolle. Das war aber auch wichtig, nur auf diese Weise wird etwas bewegt – erst später kann wieder zurückgedämmt werden, lassen sich die neuen Denkmuster in sinnvoller Weise einpendeln. Diese Zeit war wie eine Pubertät in der Geschichte der gesellschaftlichen Entwicklung, die Altes aus den Angeln gehoben und Neuem Platz gemacht hat – Fortschritte in den verschiedensten Gebieten sind sichtbar. Dennoch sind wir immer auf dem Weg, es bleibt noch viel zu tun. In der Frauenfrage beispielsweise ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie die Untervertretung von Frauen in Führungsfunktionen nach wie vor ein ungelöstes Problem, bei einkommensschwächeren Berufen besteht noch immer deutlicher Nachholbedarf bezüglich der Lohngleichheit.


Was bedeutet für Sie die Tätigkeit als Schriftstellerin?

Schreibende sind eine Art Seismographen der Zeit, in der sie leben, sie versuchen, die flüchtige Gegenwart anzuhalten und zu analysieren, ihre Unterströme transparent zu machen. Sie reagieren früher als die Gesellschaft oder die Politik auf Themen und Probleme, die gewissermassen in der Luft liegen. Auf diese Weise wird gesellschaftlich Unbewusstes artikuliert, allgemein zugänglich, fordert zur Auseinandersetzung heraus. Für mich bedeutet Schreiben auch immer wieder der Versuch, Wirklichkeit mit Sätzen und Wörtern einzukreisen. Ich bin mir dabei jedoch bewusst, dass es sich lediglich um eine Annäherung handelt. Vielleicht treibt mich dieser unerlöste „Rest“ an, mich dem Schreiben immer wieder auszusetzen.

1 Ziegler, Beatrice: Schweizer statt Sklaven . Schweizerische Auswanderer in den Kaffeeplantagen von São Paolo (1852-1866) . Stuttgart: F. Steiner, 1985.

Von Corinna Jäger Trees

 

Eveline Hasler : " Die Einquartierung"

Die Einquartierung. Emmis letzte Liebe

Der Himmel über dem Luganersee war weiss vor Hitze.
Emmi kam müde von der Arbeit nach Hause, in der Besenbinderei war es heiss und staubig gewesen, ein stickiger Tag ging zu Ende.
Sie setzte sich auf die oberste Stufe ihrer Haustreppe, ihr Körper holte ein bisschen Kühle aus der Granitplatte heraus, die Katze, ein schnurrender Fellsack, döste auf ihren Beinen.
Der junge, in ihrem Haus einquartierte Soldat setzte sich neben sie.
Ob er dürfe? Er blickte sie von der Seite an und legte dann den Arm um ihre Schultern, ihr Gesicht mit den weichen, von der Hitze leicht aufgequollenen Zügen gefiel ihm, das Blonde der Pagenfrisur, die Emmi etwas Mädchenhaftes gab, obwohl sie eine gestandene Frau war, eine Witwe...
Der junge Unteroffizier war zum ersten Mal in seinem Leben südlich des Gotthards. Zu Hause in der Innerschweiz, sah er das gewaltige Bergmassiv von der andern, der Nordseite aus, es verriegelte sein karges, nach Mitternacht ausgerichtetes Tal, da drang kein warmer Hauch vom Süden herüber, das Wetter hielt sich an diese Schwelle. Im Frühling des Kriegsjahrs 1944 war er mit seinem Zug, die beladenen Maulesel voran, über die noch verschneite Passhöhe gezogen, hinunter durch das Val Tremola nach der Burgenstadt Bellinzona und von dort aus weiter südwärts bis zu diesem letzten Zipfel des Luganersees. In Magliaso wurde er einquartiert, unweit der italienischen Grenze, hinter der Krieg war.
Doch hier, auf den Treppenstufen der Emmi Hennings, seiner Zimmerwirtin, empfand er Friede. So lau hatte er sich einen südlichen Abend nicht vorgestellt, der Hitzedunst hatte sich aufgelöst, Hügel und See nahmen Farben und Form an, umflossen von einem blaugoldenen Licht. Vom Wasser herauf brachte der Abendwind erste Kühle.
Emmi spürte noch keine Erleichterung, in ihr war ein Flattern, eine Unruhe, als ob der Wind, der in den Blättern der Büsche zu hören war, durch ihr Inneres striche.
Ein Käuzchen begann zu schreien, ein lang anhaltender, tremolierender Ruf.
Was schreit da so jämmerlich? fragte der Soldat.
Der Gufo. Sie lächelte. Weißt du, was er da schreit? Voglio una donna! Voglio una donna!
Was heisst das?
Ich will eine Frau!
Kann ich ihm nachfühlen! Der junge Soldat lachte. Ich habe auch noch keine.
Du bist wohl scheu?
Vielleicht. Er zuckte die Achseln.
Die Rufe des Käuzchens waren verstummt.
Von der Wiese her, aus den Büschen, kam die Dunkelheit.
Wie still es hier ist, bemerkte er. Nur so ein Schaben. Sind das Grillen??
Das feine Mahlen, als rieben Stockzähne aufeinander? fragte sie zurück um ein bisschen Weile zu gewinnen, denn sie war daran, das stopplige Kinn des jungen Mannes zu betrachten, den Mund unter dem hellen Backenbart, den kräftigen, fast bäuerlichen Nacken, die unwahrscheinlich blauen, wie staunend aufgerissenen Augen. Sagte dann: Du hörst die Zeit, sie mahlt und mahlt. Bis das letzte Korn aufgebraucht ist.
Und dann?
Sterben wir.
Ah ba, wir sind noch zu jung zum Sterben, wehrte er ab.
Du schon. Aber ich... Ich bin neunundfünfzig, sagte sie.
Sie blickte ihm mit spöttisch geschürzten Lippen ins Gesicht und blies die blonden Haare ihrer Stirnfranse hoch. Dann schüttelte sie ihre rechte Hand, als könnte sie brennende Stellen kühlen, er bemerkte die Schwielen und Blasen vom Besenbinden.
Er sagte: Du gefällst mir, so oder so.

Er griff nach ihrer Hand, drehte sie und betrachtete auf der Innenseite die offenen Blasen. Warum musst du denn in die Besenfabrik? Die Arbeit ist zu grob, sie macht deine Hände kaputt. Und wenn du nach Hause kommst, arbeitest du ganze Nächte am Schreibtisch...
Durch die offene Tür hatte er sie an ihrem Tisch gesehen, über Papierbogen gebeugt. Sie sass am Schreibtisch wie an einem Hausaltar, überall Heiligenbildchen und Fotos von diesem mönchisch hageren Mann, der ihr Ehemann gewesen war.
Ein Schriftsteller, ein Philosoph, hiess es im Dorf, als Gründer der Dada-Bewegung habe er in Zürich Furore gemacht, von seiner Performance als Papst spreche man dort immer noch. Auch in Deutschland rühme man Hugo Balls Bücher. Nun, da er tot sei, schreibe eben Signora Emmi Bücher über ihn, schreibe und schreibe, schwenke über den beschriebenen Blättern das Weihrauchfass.
Wird das, was sie schreibt, auch gedruckt? hatte der Soldat den Dorflehrer gefragt und der hatte, mit einem eifrigen Nicken bestätigt: Die katholischen Verlage in der Innerschweiz und in Süddeutschland sind scharf auf ihre Manuskripte...
Braucht sie Geld? Der Lehrer bejahte. Sie ist nach Magliaso umgezogen, weil die Mieten hier billiger sind, ihre Bücher hat sie, obwohl sie nicht mehr die Jüngste ist, in einem Handwagen mühsam hinter sich her gezogen.
Mühsam, ja, sagte der Soldat, es waren gewiss Hunderte von Büchern...
Ach, sagte der Lehrer belustigt, in ihrer Bibliothek steht Casanova friedlich neben Augustinus, und haben sie, über den Regalen, vor dem schwarzen Samttuch, die Totenmaske gesehen? Sah Ball nicht wie ein Geistlicher aus mit der strengen Heiterkeit um den Mund? Wie Kirchenmäuse hat das Paar im Tessin gelebt, eifrige Konvertiten, morgens zur Frühmesse, abends zum Rosenkranz, doch mit seinen schwierigen philosophischen Büchern hat Ball nur Schulden hinterlassen. Sein Begräbnis hat Hermann Hesse bezahlt. Dann und wann schickt der Dichter aus Montagnola ein Scherflein, damit die Witwe ihren Hauszins zahlen kann...
Der Soldat schaute die schmale Frau an, Entbehrungen und Arbeit schienen an ihr zu zehren. Besenbinden und schreiben, du bist zu emsig, Emmi, rügte er.
Sie lächelte und sagte: Weißt du, dass man mich damals in Schwabing Emsi genannt hat?
Schwabing? Wo ist das?
Ein Stadtviertel von München.
Sie dachte an ihre Tingeltangel-Zeit, an die wechselnden Liebhaber aus der Boheme und an die Freier, die sie sich hatte anschaffen müssen, um nicht zu verhungern. Wer sie zuerst Emsi genannt hatte? Wohl Erich Mühsam. Seine Emsi war ihm lieb, er hatte Einsicht in ihr verspieltes,schöpferisches Wesen, nur ihre Konversion zum Katholizismus und ihre frommen Anwandlungen, wie er das nannte, verstand er nicht. Trotz der frommen Uebungen empfand sie es als mühsam, enthaltsam zu leben, schaffte sie es die Woche über, so leistete sie sich wenigstens am Sonntag ihren Mühsam. Einmal, nach einer gemeinsamen Nacht, hatte sie ihm gesagt, sie wolle ins Kloster.
Und er darauf spöttisch: Ach, und wer bestellt dann dein Gärtchen?
Das hatte sie masslos gegen ihn aufgebracht. Sie ertrug keinen Spass über Dinge, die ihr Spass machten.
Und dann kam Hugo Ball. Die Jahre ihrer Ehe. Der Mönch und die Tingeltangel-Prinzessin. Er suche bei ihr keine hausfrauliche Sorge, sondern die Unschuld, das Unbewusste, die Fee, das Übersinnliche, hatte er einem Freund geschrieben . Sie lebten mal zusammen, mal getrennt, trieben zusammen das Bücherschreib-Spiel, reisten mit den letzten Ersparnissen nach Italien, sorglos wie Kinder, handkehrum auch tief verzweifelt. Er, der Gelehrte, der Asket, wusste um Emmis Leben voller Umwege,er verstand ihre Weglaufsucht, war ihrem Kind aus einer früheren Beziehung ein zärtlicher Vater, auf seine Grosszügigkeit war Verlass.
Nur seinen frühen Tod empfand sie als Verrat.
Sie blinzelte und sah den jungen Soldaten, wie er den Rauch seiner Zigarette mit spitzem Mund vor sich hertrieb, Wolken, Weihrauchwolken. An Fronleichnam schwang Hugo in der Kirche das Weihrauchfass. Die dunkel gekleideten alten Weiblein nahmen mit witternder Nase gierig den frommen Geruch auf, der, so glaubten sie, den Teufel in die Flucht treibe. Emmi wurde in der Messe übel, es sitzt halt ein Teufelchen in mir, bemerkte sie lachend, aber Hugo wusste, dass ihr Magen nach einer kräftigen Mahlzeit verlangte: Geh zum Krämer, er wird dir auf Pump Eier und Butter geben, auch ein Stück Schafkäse und Salamiwurst, Hesse wird uns nochmals einen Schein schicken.
Der Wind spielte jetzt im Nachbargarten mit den Blattfingern einer Palme, ein Geräusch, als zerreisse Seidenpapier.
Emmi schüttelte die Katze ab und stand auf. In der Küche holte sie Gläser und die angebrochene Weinflasche, die der Soldat am frühen Abend aus dem nahen Grotto mitgebracht hatte.
Sie tranken schweigend. Aus dem Granit der Treppenstufen bezogen sie Kühle, eine Wohltat nach der Hitze.
Ob er dürfe? Sie liess sich küssen, er tat es auf eine vorsichtige, unschuldige Art.
Seine bäurischen, beinah quadratischen Hände glitten fühlsam über ihr Gesicht.
Die Dunkelheit füllte die enge Dorfgasse, die Hauswände erschienen jetzt
schluchtartig, fensterlos. Ein Hund bellte.
Als der Hund schwieg und seinem Meister ins Haus folgte, begann das Käuzchen wieder zu schreien.
G-u-f-o, sagte der Soldat, das fremde Wort sorgfältig wie eine Kostbarkeit aussprechend. Was schreit er? Sag mir noch mal, was er schreit, Emmi!
Voglio una donna! Sie lachte, leerte ihr Glas.
Der Wein hatte ihr Gesicht flaumig gemacht.
Wie gut, an diesem lauen Abend nicht schreiben zu müssen. Sie blickte zum Nachthimmel und versprach: Morgen werde ich dafür ein paar Seiten mehr schaffen, hörst du, Hugo, dabei zwinkerte sie über der Krone des Kastanienbaums einem kleinen Stern zu.
Der Soldat aus der Innerschweiz deutete das zu seinen Gunsten.
Darf ich? Er zog sie die Treppenstufen hinunter zu dem kleinen Grasplatz bei der Kastanie.
Das mit bläulicher Dunkelheit angefüllte Männergesicht neben ihr nahm einen Moment die Züge des sterbenden Hugo an, wie er ihr vor über fünfzehn Jahren in San Abbondio in den Armen gelegen war.
Sie erschrak. War Hugo eifersüchtig? Oder hatte er, grosszügig wie immer, seiner Emmi den jungen Unteroffizier in den Arm gelegt? Die Gedanken der Toten sind geheimnisvoll.
Der Soldat hatte sie sachte ins Gras gelegt, Halme stachen ihr in den Rücken.
Sie dachte erst an den schmerzreichen, dann an den freudenreichen, dann an den glorreichen Rosenkranz.
Als sie sich von ihm löste, stand der Stern immer noch über den Zweigen der Kastanie.
Sie ging in die Küche und brachte zwei Gläschen Grappa von der Flasche, die Hesse aus Montagnola im Januar zu Emmis Geburtstag geschickt hatte.
An diesem Abend arbeitete sie nicht mehr an ihrem Manuskript. Sie setzte sich nur kurz unter den Fotos und Heiligenbildchen an den Schreibtisch und schrieb an Hesses Frau Ninon: „Dreimal am Tag habe ich Gott gebeten, eine Veränderung herbeizuführen, denn es ist verwirrend, sich verliebt zu spüren wie ein junges Mädchen. Doch es bleibt so: Ich habe eine Einquartierung im Herzen.“