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Ralf Schlatter
Federseel. Roman. Kein & Aber, Zürich 2002.

  Ralf Schlatter / Federseel
 

 

„Der Finger fiel neben Frau Amann ins Sägemehl. Sie liess die Katze fahren, schrie, erbleichte, fiel.“
Ralf Schlatter

Der 1971 in Schaffhausen geborene, heute in Zürich lebende Ralf Schlatter debütiert mit einem kleinen Roman: „Federseel“. Geschichten von einem Kauz, der sich flunkernd durchs Leben schlagen möchte. .

Federseel. Roman. Kein & Aber, Zürich 2002.

  1001 Geschichten vom zehnten Finger

Georg Federseel bringt wenig Gewicht auf die Waage. Meist schweigt er, und macht er sich doch bemerkbar, so rettet er sich beredt ins Reich der Fantasie. Federseel liegt das Herz auf der Zunge, aber nur, wenn er nicht von sich selbst, ehrlich und wahrhaftig, sprechen soll. Um nicht heillos ins Stottern zu geraten, erfindet er lieber gleich wieder eine fantastische Geschichte.

Unschwer zu erraten, dass hinter dem Fabulierer ein geborener Melancholiker steckt. Erzähler neigen oft zur Melancholie, weil sie um ihre beschränkte Erfahrung wissen. Die Wirklichkeit hinkt immer hinter all den Möglichkeiten her, die Erzähler virtuell zum Leben erwecken. Peter Bichsel oder Jörg Steiner geben einen Eindruck davon.

Bei Federseel kommt erschwerend hinzu, dass seine Fabuliererei aus einem Erzählzwang geboren ist. Er lügt sich durchs Leben, indem er sich in Flunkergeschichten redet, rettet. Als es aber doch ernst zu werden droht, muss es mit ihm ein Ende nehmen.

Der 31-jährige Ralf Schlatter hat sich in den letzten Jahren einen Namen als erfolgreicher Slampoet gemacht. Mit dem schmalen Roman „Federseel“ debütiert er nun im „ernsten“ Fach. Mit schönem Erfolg, wie gleich anzumerken ist. Die tragikomische Geschichte des Georg Federseel gefällt durch erzählerischen Reichtum, formale Kompaktheit und sprachliche Klarheit. Die mit leichter Ironie wattierte Traurigkeit erinnert zuweilen etwas an Bichsel und Steiner, sie ist ebenfalls mit ein wenig schrulliger Nostalgie versetzt, doch Federseel bleibt sich selbst.

Als Silvesterkind geboren, wird ihm am fünften Geburtstag erstmals erklärt, dass das Feuerwerk draussen vor dem Fenster nicht ihm allein gilt. Eine Enttäuschung fürs Leben. „Georg erfuhr. Und sann auf Rache.“ Dies wiederholt sich, als wenig später seine Mutter stirbt. Dazu schweigt er. Den ersten, Teil seiner Rache vollzieht er, indem er sich den linken Zeigfinger abhackt. So ist es aus mit dem Zaubern, dafür erhält Federseel einen Erzählkern geschenkt, aus dem er ein Leben lang seine Geschichten schöpfen wird. In tausendundeiner Variation berichtet er, wie es zu diesem Malheur gekommen ist. Bald schon wird er sogar als flunkender „Mietgast“ zu Partys eingeladen. Ansonsten stottert er - oder schweigt. Diesen gemächlichen Strom des Lebens durchbricht Susanna, der er keine absonderliche Geschichte anzudichten vermag, weil etwas anderes zwischen ihnen geschieht. Federseel kann es nicht recht benennen, die Geschichten wirken dann schal und ausweichend. „Kannst du eigentlich auch einmal normal mit mir reden“, fordert Susanna. Mit ihr wird es ernst, doch ein Unfall, dann ein zweiter bereiten der Geschichte ein tragisches Ende.

Zwischen die einzelnen Kapitel hat Schlatter jeweils ein kurzes, fortlaufend zu lesendes Intermezzo gesetzt: Ein junger Mann mit Rucksack zwängt sich im Zug in ein Sechserabteil und isst, wie die andern essen, einen tropfenden Pfirsich. Am Ende erweist sich der junge Mann als Georg - auf der Flucht. Die parallel geführten beiden Erzählebenen kommen am Ende zusammen, sie belegen die ebenso zurückhaltende wie effiziente Gestaltungskraft, die Ralf Schlatter hier umsetzt.

Zwar kann eingewendet werden, dass es insbesondere der Hauptfigur an psychologischer Tiefe und damit an Ernst fehlt. Der Roman flunkert diesbezüglich nichts vor, er mag eher liebreizend als brisant wirken. Doch so ganz harmlos ist er nicht. Vieles muss und kann auch erahnt werden, weil Federseel es flunkernd ausdrückt. Im Grunde wünschte auch er sich, dass „ich endlich nicht mehr allen Leuten diese Geschichten erzählen muss“, doch dies mag ihm nicht gelingen. Indem er sich ständig in die Fantasie redet, belügt er sich auch ständig.

Dergestalt ist der Held für seinen Autor eine ideale Figur, in der er den eigene Ideenreichtum unterbringt: etwa in dem zauberhaften Märchen von der Blumenwiese. Die Geschichten, die Federseel laufend erzählt, sind jedoch nicht einfach Ausgeburten einer überbordenden Einbildungskraft. Vielmehr wandeln sie vorangegangene Variationen permanent ab, versetzen Motive und Figuren in neue Konstellationen und vernetzen sie so zu einer grossflächigen Erzähltextur. Auch hierin hat sich der Autor Zurückhaltung auferlegt. Dennoch hilft dieses Erzählen seinem Helden nur über den Moment, nicht über das Leben hinweg. Immerhin behält er noch am Schluss seinen tragisch-komischen Charme.

Federseel. Roman. Kein & Aber, Zürich 2002.

Beat Mazenauer

 

Page créée le 26.11.02
Dernière mise à jour le 03.06.03

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