Peter Webers zweiter Roman, in dem der Wettermacher sich die Salbaderei aneignet

Die Kunst des Fieberns und die Kunst der Redseligkeit

Wendelin SeIb, genannt Silber, bald als Ich-Stimme, bald als 3. Person der Protagonist von Peter Webers neuem Buch, am nächsten wohl verwandt mit Weber selber, jedenfalls gehört der poetische Umgang mit der Autobiografie zu den fesselnden Kunststücken, die in «Silber und Salbader» vorgeführt werden, kurz und gut, dieser Selb, SiIber, Weber selber hat einen Grossvater, der seit frühester Kindheit an Schwindel- und Fieberanfällen litt und dessen «Lebensleistung» es war «sein heiss aufwallendes Blut und die sich schnell drehende Phantasie zu kanalisieren und verwertbar zu machen. Dies nannte er die Kunst des Fieberns."

Ausser ihm, dem «grossartigsten Schwindler, den das Raschtal je gesehen hat», gibt es in den überquellenden Stammbäumen Selbs weitere Prunkstücke, die mit der «Kunst des Fieberns» bestens vertraut sind. Nicht zu reden vom Beitrag der Frauen des Stammbaums, dieser Quellmütter und Molkenmeisterinnen, Wirtinnen und Bäderwärtinnen, die es dem letzten Abkömmling leicht machen, «die Kunst des Fieberns» weiterzuentwickeln und zu vereinen mit verwandten Künsten: mit derjenigen der Salbaderei (Salbader, dies die Etymologie!, kommt von Salvator, was Retter und Heiler heisst) und mit der Kunst der Redseligkeit.

Mit der vor allem. Denn «Silber und Salbader», soviel steht fest, ist ein unerhört redseliges Buch. Aber nie und nirgends schlägt seine Redseligkeit in Geschwätzigkeit um, sondern hat tatsächlich mit Seligkeit zu tun, etwas verhaltener gesagt: mit dem Glück des Erzählers darüber, dass seine Welt so voller Stoff ist - noch ist, muss es heissen; denn das Buch erzählt auch davon, wie die WeIt immer von Neuem Verrat an sich selber übt, wie sie verfälscht wird, verrottet, abhanden kommt und irgendeinmal nicht mehr erzählenswert sein könnte: «Das Ende der Lieder» aber «bedeutet das Ende der Weit."

Schönreden als Remedur

Der Satz ist in einen Zusammenhang gestellt, der sein Pathos bricht. Aber er lässt die melancholischen Molltonarten von Webers Erzählen hörbar werden, hier unvermittelt, mitten im Dur des erzählerischen Übermuts, dessen heimlicher Unterton und Kontrapunkt sie jedoch durchgehend sind. Auch in einer andern Stelle, die im Kontext nicht in den Verdacht gerät, sich als gravitätische poetologische Sentenz zu verstehen, schon eher etwas wie auktoriale Selbstironie verrät, vor allem aber Erkrankung und Krankheit (der Weit wie die eigene) als Beweggrund des Erzählens voraussetzt: «Auch ich werde mir ein salbungsvolleres Reden angewöhnen, weitschweifender ausholen, schönere Wendungen finden, die in der Heilkunst bedeutsam sind. Das Schönreden ist eine wichtige Remedur. Es produziert Atem. (...) Erzählen ist für ihn Gesundung. Ausholen bedeutet Besserung.»

Dass diese Passage und der oben zitierte Satz vom Ende der Weit in einen Zusammenhang gebracht werden können (obwohl sie im Roman weit auseinanderliegen und der Kontext völlig verschieden ist), darf zur Not behauptet werden. Aber es vermittelt nur einen schwachen Abglanz von der Subtilität, womit der Autor die unglaubliche Stofffülle seines Romans in den Griff zu bekommen weiss: durch Verknüpfung der Motive und durch Querverbindungen (im Roman-Ganzen wie im Detail), mittels der repetitiven Elemente oder in all den bestechend komponierten Thema-mit-Variationen-Sequenzen. Dadurch läuft der Roman, so lustvoll sein Autor auf den Techniken des Ausholens, Aus- und Abschweifens, der Verzweigungen und Verästelungen besteht, nie Gefahr, auseinanderzufallen. Die erzählerische Desorganisation darin hat zwar Methode, ist aber weit davon entfernt, strukturlos oder beliebig zu sein. «Silber und Salbader» ist, so paradox es klingen mag, ein Buch wie aus einem (einem schwerelosen!) Guss.

Unerschrockene Imagination

Nun aber endlich von vorn! «Hier kommt also die Patientengeschichte von Wendelin Selb, genannt Silber, seit einer Woche im Bäderhotel Rose lebend (...); vom November bis Februar im Quellenhof im hintersten Raschtal angestellt; zuvor wohnhaft gewesen in einer Dreizimmerwohnung an der Hardbrücke am Westrand der Stadt Zürich im fünften Stock eines Mietshauses mit verschatteten Topfpflanzen im Treppenhaus. (...) Zwischen Schnellstrassen und Gleisen. Beim Güterbahnhof. (...)"

Was einen ordentlichen Romananfang abgeben könnte, findet sich erst im vierten Kapitel des Buchs, auf S. 63/4. Der Gesang von Selbs/Silbers Leben ist da längst angestimmt, Zürich hat sich bereits verwandelt in die bravourös bespielte «Gleisharfe» Und die «Patientengeschichte» wird nicht nur (wie schon erwähnt) bald in der ersten und bald in der dritten Person erzählt, sondern auch teils in der Gegenwart, teils der Vergangenheit. Den Wechseln liegt ein System zu Grunde. Aber jederzeit genau durchschaut zu werden, braucht es nicht. Denn wenn der Roman nach fast dreihundert Seiten wieder zurückführt an seinen Anfang und ins Bäderhotel Rose in Baden, ist die reale Zeit (die vergangene, erzählte) zwar datiert und nachzurechnen (November 1995-Februar 1996), aber der Strom der Erzählung hat ein ganzes Leben (das Silbers, angefangen bei der Zeugung im August 1967) sowie ganze geschichtliche Epochen und mythische Vorzeiten mitgeführt. Und die drei Hauptschauplätze (Zürich; Baden; das hinterste Tal der Rasch, die eimnal als Limmat geoutet wird) haben sich vielfältig überlagert und sind durch die unermüdliche lmaginationskraft dieses Autors nach allen Richtungen (auch ins Erdinnere) ausgeweitet worden. Keiner (ausser Urs Widmer) lässt dabei jede Realität so weit hinter und unter sich, um dann doch immer wieder in ihr angelangt zu sein: einer soziologischen, ökologischen oder historischen, einer brandaktuellen oder weiter zurückliegenden Realität, einer autobiographischen (Silber und Weber haben kaum zufällig denselben Jahrgang) und vielleicht auch familiengeschichtlichen.

Bäder, Gestein und Musik

Aber keine von ihnen ist ohne Schaden nachzuerzählen und zu beschreiben. Die Imagination erzählt in immer neuen Anläufen und durchsetzt das Erzählen mit Kurzgeschichten, Anekdoten, Etymologien und Wortspielen. Sie geben sich zunächst als Solonummern, kleine Arien aus. Aber irgendeinmal ordnen sie sich (siehe z. B. Mollton-Molton-Molasse-Molken) ein ins Ensemble dieses Romans, in seine drei zentralen Themenkreise also, und das sind: erstens das Bäderwesen von den Anfängen bis zur Gegenwart, zweitens die schweizerischen Gesteinsformationen und drittens die Musik.

Zur Kenntlichkeit verzerrt

Wie die drei ineinander verwoben und aufeinander bezogen werden, ist (wie schon mehrmals gesagt, geklagt, bestaunt!) nicht darzustellen. Und wenn hier nun trotzdem (vermeintliche) Binnengeschichten herausgeschält werden, geschieht es mit grossen Bedenken. Weil es die poetischen Metamorphosenkunststücke und Flunkereien, die Verkleidungs- und Maskenspiele ausser acht lassen muss, ohne die Realität in «Silber und Salbader» nicht zu haben ist. Aber es ist trotzdem eine Wahrheit und nichts als eine Wahrheit, die sich hinter der grotesken Geschichte vom «Raschtaler Zahnradorchester» und seinen Untergang abzeichnet. Die Wahrheit nämlich über eine Gruppe junger Leute, die es aus ihrem Heimattal in die Grossstadt Zürich verschlagen hat und die sich dort aneinanderklammern und gegenseitig Hait zu geben versuchen, in bald einmal stadtbekannten Saufgelagen. - Eine andere solche Wahrheit ist die dramatische Geschichte vom Aufstieg und Niedergang der Ostschweizer Textilverarbeitungsindustrie. Sie ist so mit Sicherheit noch nie erzählt worden, und den Alptraumorten, die an ihrem Ende stehen (Neugrund mit seinen Glaspalästen), könnten Kafka, Fellini und Bergmann gleichzeitig Pate gestanden sein. - Und ein letztes Beispiel von zur Kenntlichkeit verzerrter Wahrheit und Realität sei angeführt: Es ist die vordergründig als Satire, hintergründig als Trauerspiel erzählte Wahrheit über das Aufkommen und die Entwicklung des Fremdenverkehrs im Raschtal und wie er das Brauchtum eines Landstrichs verkommen lässt und die Mentalität der Bewohner verändert.

Lyrische Emphase

Soviel trotz aller Bedenken, den Roman auf diese Weise zu direkt zu lesen und dabei vieles zu verpassen und zu verpatzen. Denn letztlich darf im Falle von «Silber und Salbader» die Realität von Inhalten nicht abgesondert werden von derjenigen der Sprache, der Form und der Komposition, und vollends nicht von der Realität der lyrischen Emphase in diesem Buch. Sie kommt besonders der Liebesgeschichte zwischen der Bratschistin und Bäderwärtin Pina und dem Maultrommler und Bäderwirt Silber zugute. Ob das ihre komplizierte Liebe rettet, ist trotzdem ungewiss. - Wenn am Ende des Romans draussen vor dem Bäderhotel Rose die Welt im Nebel und Dunst verschwindet und es immer «schwieriger wird, Tag und Nacht zu unterscheiden», wartet das Liebespaar in seinem Zimmer «auf den falschen Februarschnee», der im ersten Kapitel schon zu fallen begonnen hatte. Als wäre das Ende der Weit und der Lieder jetzt angebrochen und immer bloss ein Buch lang nochmals hinauszuschieben.

Peter Weber : "Silber und Salbader" Roman. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1999. 292 S. Fr. 37.-

Heinz Schafroth
Basler Zeitung
Freitag, 1 oktober 1999

 

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