Rehabilitierte Geschichte
Der Genfer Gelehrte Jean Starobinski im Gespräch

Als allabendliche Fernsehnachrichten wird Geschichte heute wahrgenommen : für den Tag und seinen Bedarf an emotionaler Befriedigung gemacht, als ob Geschichte nichts mit jenem Kontinuum der Zeit zu tun habe, das allein unser Hier und Heute zu erklären vermag. Eine Weigerung, an diesem Prozess der kulturellen Selbstenteignung teilzunehmen, den eine medial determinierte (Post-)Moderne dem Menschen aufzwingt, stellt das Werk des Literaturhistorikers Jean Starobinski dar. Wer kürzlich im Musée Jénisch in Vevey die Gelegenheit hatte, dem Gespräch zu lauschen, das der Genfer Gelehrte am ersten Abend einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe aus Anlass seines 80. Geburtstages mit dem Westschweizer Dichter Frédéric Wandélère führte, konnte gewahr werden, dass Starobinski der Literatur das Potenzial zuerkennt, die Geschichte zu rehabilitieren, in dem Masse, wie das literarische Werk erlaubt, die Welterfahrung unterschiedlicher Epochen miteinander zu vergleichen.

Starobinski habe in seinen Büchern wie kein Zweiter die europäische Ideengeschichte bis an ihre Ursprünge in der Antike zurückverfolgt, befand Wandélère, was Starobinski umgehend relativierte : Es dürfe nie um realitätsferne Erudition gehen; vielmehr stehe die Historisierung der Frage nach der Beziehung des Menschen zu sich selbst und seinem Gegenüber im Vordergrund. Corneille, Rousseau oder Stendhal etwa hätten diese Beziehung am Beispiel des Auges und des Blicks transparent werden lassen, der verbindend oder trennend sein konnte, auf jeden Fall aber eine Aussage über das Verhältnis der Personen zulasse. Dass eine themenbezogene Literaturkritik auch Rückschlüsse auf die Lebensführung des Autors zulasse, sieht Starobinski - entgegen der poststrukturalistischen Theorie vom Tod des Autors - als deren Stärke an. Es müsse erkennbar gemacht werden, welche Texte und welche Autoren den Schreibenden seinerseits inspiriert hatten.

Tatsächlich ist die intertextuelle Forschung im Werk Starobinskis von zentraler Bedeutung. Immerhin war er der Erste, der auf Grund intensiven Handschriftenstudiums, den Einfluss Montaignes und Tassos auf Rousseaus Denken nachweisen konnte. Kein geeigneterer Ort als das ehrwürdige Musée Jénisch hätte für das Gespräch gewählt werden können. Starobinski unterstrich die Bedeutung des kollektiven Gedächtnisses, das Museen und Archive heute angesichts der Kurzlebigkeit des Zeitgeists mehr denn je darstellen. Dieser Gedächtnisfunktion wesentlich sei Balzacs Diktum, dass allein im Wort die Wahrheit eingeschrieben sei, kritisierte Starobinski die Verfallserscheinungen einer zunehmend medial vermittelten Sprache. Dem Vertrauen in das Bleibende entspricht auch der kleine Band mit "Hundert Büchern des 20. Jahrhunderts, die ich nicht vergesse", den Starobinski mit Iso Camartin unlängst vorlegte - Romane, Essais und Sachbücher von Robert Antelm über Thomas Mann bis Eric Weil, in denen sich die schrecklichen Wunden und imponierenden Chancen des 20. Jahrhunderts spiegeln.

Jean Starobinski, Iso Camartin : Cent livres du vingtième siècle. Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne, Lausanne 2000. 48 S., Fr. 15.-

Michael Wirth

26.10.00

 

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