Eine turbulente Nacht

Wenig bedarf es, dass kleinliche Missverständnisse in verhängnisvolle Turbulenzen auswachsen. Ein schlechtes Gewissen sowie eine Nachlässigkeit und schon bahnt sich Unglück an. Unversehens hält der alte Théodor eine Ledertasche, die irgendjemand hat stehen lassen, in der Hand, doch wohin soll er sie bringen, wenn er nicht mal mehr weiss, wo er selbst zuhause ist?

Dies allein könnte als Bagatelle durchgehen, wären nicht noch mehr der verflixten schwarzen Ledertaschen mit dubiosem Inhalt in Umlauf, verfolgt von einer Schar von ebenso dubiosen Figuren. Am Ende weiss keiner der Jäger mehr, welche der Taschen mit welchem Inhalt er in Händen hält. Das Tohuwabohu ist perfekt und sorgt eine Nacht lang für Action und ein paar unglückliche Opfer.

Die Rhonestadt Genf in Aufruhr. Urs Richle, seit ein paar Jahren Wahlgenfer, lässt in seinem Krimi „Hand im Spiel“ das kleine Malheur in kollektive Verunsicherung umschla­gen. Mit einer filmisch geschnittenen Parallelmontage entfaltet er geduldig seinen Plot, lässt ihm zunehmend freien mörderischen Lauf und befreit ihn erzählerisch fein gestimmt am Ende wieder dem reis­senden Sog. Wie sich am nächsten Morgen der Nebel über der Stadt lichtet, ist die Aufregung beinahe schon vergessen. Der nervenschwache Bankbetrüger Leo taucht aus dem Untergrund auf, Jeanine beseitigt die Folgen der missratenen Vernissage, Lucie und Juanita nehmen sich zusammen, Georg trinkt mit Fred und Eliane eine Kaffee. Nur Ali bewegt sich nicht mehr. Und im Café Cristallina sinkt der verwirrte Théodor leblos zusammen.

Urs Richle beweist ein gutes Gespür für dramaturgische Effekte und rasante Beschleunigung. Gekonnt führt er die verschiedenen, voneinander unabhängigen Erzählstränge auf ihr verhängnisvolles Zusammentreffen hin. Aus der Montage ergibt sich die Spannung.

Nur einmal durchbricht Richle diese Struk­tur. Im vierten seiner fünf Akte blendet er retardierend an den Beginn der Nacht zurück, um weitere Handlungsstränge in den Showdown zu verwickeln. Ohne Not, wie es dünkt, weil damit längst Geschehenes (aus neuer Perspektive zwar) nachvollzogen wird und weil diese Passagen den Anschein machen, dass der Autor vor allem noch „sein“ Genf: die Subkultur und Hausbesetzerszene mit ins Bild rücken wollte - als Kontrast zur Halbwelt der Diplomaten, Schieber und Banker. Vielleicht wäre er besser gefahren, hätte er jene gleich von Beginn weg mitspielen lassen; und vielleicht hat auch der Zufall in diesem Roman ein bisschen zu sehr die Hand im Spiel. Gleichwohl überzeugt Richles Roman, weniger als Krimi denn als buntes, filmisch montiertes Pa­nopti­kum einer provinziellen Stadt, in der sich Szenen aller Art tummeln und ihr nächtlicherseits so etwas wie Internationalität verleihen.

Doch wie der finstere Spuk ausgestanden ist und sich der Staub, den die wüsten Vorkommnisse aufgewirbelt haben, sachte wieder senkt, taucht aus dem Zwielicht das alltägliche friedliche Genf auf. Ihm, mit seinen Plätzen und Cafés, gilt offenkundig Urs Richles Zuneigung.

Urs Richle: Hand im Spiel. Roman. Eichborn Verlag, Frankfurt. 296 Seiten.

Beat Mazenauer

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