Klaus Merz braucht für seine Texte wenig Raum. Das Wort und die Stille, in der es steht, öffnen dennoch weite Räume von Welthaltigkeit, in denen das Fantastische wie das Wirkliche sich entfalten.

Das kleine Wort ist Welt genug

Diese knappen Sätze lassen keinen Zweifel daran, woher sie kommen: nicht aus Sprachlosigkeit, sondern aus der Fülle des Meinens und Bedeutens. Es sind Sätze, die aufs Höchste konzentriert Welten von Geschichten enthalten, in einer Sprache, die in ihrer Sparsamkeit zwischen Lyrik und Prosa kaum einen Unterschied macht. Auch in der Intensität nicht, denn in diesen kurzen Prosastücken sind präziser Klang und strenger Rhythmus, ist bewusste Form in jedem Wort und kein überflüssiges Geräusch.

Das macht, dass die Wörter unüberhörbar sind und in ihnen die Stille mitschwingt, die sie umgibt, aus der sie sich langsam in den Wortklang eingewachsen haben, der nun nicht Andeutung ist, sondern Reduktion, Kurzschrift, die weite Räume öffnet, Abbreviatur, die ein Äusserstes an Welthaltigkeit mit sich trägt.

Nahe liegend Alltägliches

«Amseln lärmen / im alten Laub, eine Frau / trägt die Winterreifen ins Haus. // Auf der Unvergleichlichkeit dieses Morgens / wollen wir beharren, der brand-/ neuen Sonne, dem Salzrest / im Gummiprofil.» Zwei Strophen, mit drei und vier Zeilen, mehr braucht dieses Gedicht unter der Überschrift «Radial» nicht, um Aufbruchsstimmung und Frühlingsgefühl ­ doch wie fern von jedem Klischee und jeder Gefühlsduselei ­ zu evozieren, um darein Vergänglichkeit zu mischen und eine leise Melancholie, die von Versäumnis spricht und übrig bleibendem Rest.

Von solch Naheliegendem, einer alltäglichen, aber hellwach registrierten Beobachtung, gehen manche dieser Gedichte und kurzen Prosatexte aus, die Klaus Merz in seinem neuen Band sammelt. «Garn» ist schon im Titel ein Beispiel für die Poetologie der Reduk tion, das Verfahren von Konzentration und Vieldeutigkeit, die nichts mit unentschieden verschwommenem Meinen zu tun hat, sondern genau bedachte und kalkulierte Mehrstimmigkeit, Mehrbödigkeit bedeutet. Aus Garn lassen sich Teppiche knüpfen, mit Garn lässt sich Unterschiedliches zusammenbinden, Garn ist der gedrehte Faden, den Ariadne als Ausweg aus dem Labyrinth anbot, im Wort Garn klingen die Bedeutungen von Seemannsgarn und andern Netzgeflechten nach, in denen man hängen bleibt.

Sehnsüchte und Träume

Klaus Merz erzählt von Menschen, die in ihren Umständen und Lebensläufen hängenbleiben, er spricht von den aufflackernden Momenten fantastischer Ausbrüche, die aus dem alltäglich Wirklichen ein Besonderes machen, die aus lang gehegten Sehnsüchten Träume machen, von denen nicht leicht zu entscheiden ist, ob sie nun wirklich seien oder doch nur geträumt.

«Ja, Frau Jaun, ich gebe es zu, seit ich am Morgen des zweiten Aprils den Konkurs gegen Sie eröffnete und Sie bei mir persönlich um Nachlassstundung vorsprachen, habe ich kein Auge mehr zugetan.» So beginnt eine ganz und gar ungewöhnliche Liebesgeschichte, die dazu noch den völlig unverdächtigen Titel «Amtliche Mitteilung» trägt. Es ist eine verwirrende Liebesgeschichte, in der sich Glück und Leid untrennbar verbinden. Da fällt einer plötzlich aus dem amtlichen Geleise seines Lebens, übermächtig erwacht in ihm das Gefühl, das jedes Wirkliche übersteigt, er gerät ins Falliment: «Kurzum, ich bin Ihrer Ähnlichkeit zu meiner Frau, mit der ich seit über zwanzig Jahren verheiratet bin, glücklich zumeist, auf der Stelle verfallen. Alles, was mich an sie bindet, schicksalshaft schon fast, auf den ersten Blick an Ihnen wieder zu finden, hat mich dermassen durcheinander gebracht, dass ich Sie jetzt ­ zur Überprüfung der Wirklichkeit und um wieder zu uns selber zurückzufinden ­ meinerseits um Stundung bitten muss: Gestatten Sie mir, für die Dauer des Verfahrens, unauffällig an Ihrer Seite zu ruhen?»

In die Mitte der Dinge

Das ist schon die ganze Geschichte. Ihr nachzulauschen heisst, die Fäden eines Romans aufzunehmen, den Strichen ­ nein, nicht einer unvollkommenen Skizze, sondern einer präzise rätselvollen Zeichnung auf dem Blatt zu folgen, die Nebenwege zu gehen, die ganz offenkundig vom Hauptstrang dieser Geschichte wegführen und doch nicht ablenken von ihrem Kern, der von Treue erzählt und Untreue, von Gewissheit des Gefühls und Erschütterbarkeit, vom Unbeständigen wie vom Vertrauten.

Ohne Bruch

Klaus Merz, 1945 in Aarau geboren, hat sich in seinem Schreiben konsequent in die Mitte der Dinge und der Verhältnisse, in denen Menschen zueinander stehen, hineinbegeben, hat sich die Wörter lange hellhörig vorgesagt, bis er sie mit dieser Meisterschaft zu setzen wusste, die rein gar nichts Beliebiges mehr hat. Jetzt stehen die Wörter für die Dinge und die Verhältnisse, sie erzählen sich in den Wörtern ganz unmittelbar.

Daran liegt es, dass die kleinen Fluchten ins Surreale, ins traumhaft Unwirkliche nicht aufgesetzt und illusionistisch wirken, sondern wirklich erscheinen als die andere, die rätselvollere Seite der Wahrheit, des Lebens ­ wie immer wir das Umfassende nennen wollen, das nicht in der Materie, nicht in den Körpern sich erschöpft, sondern Geist und Gedanke mit einschliesst. So wie in diesen Prosatexten und Gedichten kein Bruch zwischen Form und Inhalt auszumachen ist.

Klaus Merz: Garn, Mit Pinselätzungen von Heinz Egger.Haymon, Innsbruck, 94 Seiten

Urs Bugmann

27. April 2000

 

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