Hugo Loetscher: "Die Augen des Mandarin" - Augenblicke eines Perplexen

Zürich (sfd) Phantastisch, einfallsreich und hintersinnig: Hugo Loetschers neues Buch "Die Augen des Mandarin" hat einiges zu bieten, wenn man bereit ist, viele Geschichten statt eines Romangeschehens aufzunehmen.

In das Zentrum dieser Geschichten hat der renommierte Zürcher Autor einen Mann mit Namen Past gestellt, der einiges mit ihm gemeinsam hat. Beide sind fast 70 Jahre alt, beide sind viel gereist, und der Blickwinkel, mit dem Past sich an sein Leben erinnert, dürfte dem von Loetscher ähnlich sein.

Es ist der Blick eines Kosmopoliten, der die Welt nimmt, wie sie ist und sich doch - unausgesprochen, aber deutlich - wünscht, sie wäre anders.

Erinnerungen

Past war Spezialist für Neujahrstage in einer Schweizer Stiftung. Die Aufgabe des obskuren Instituts war es, zu prüfen, "wie in Zukunft ein Kalender mit Feier- und Gedenktagen aussehen müsste, der jedem Breitengrad gerecht wird und ihm zugemutet werden kann."

Am Ende wird die Stiftung aufgelöst, weil ihr unbekannter Gründer der Mafiamachenschaften bezichtigt wird, und Past muss Büro und Wohnung räumen. Beim Packen fällt sein Blick auf Gegenstände, mit den Erinnerungen und Geschichten aus seinem Leben zu Tage treten.

Eindrücke

Eine wichtige Rolle bei diesen Assoziationen spielt ein Buch, auf dessen Einband ein chinesischer Mandarin zu sehen ist. Past beschäftigt sich mit dessen Frage, ob Menschen mit blauen Augen - also mit den Augen der Europäer - überhaupt sehen können. Dahinter steht natürlich die Frage, was man wahrnimmt, wenn man sieht.

Past lässt die Frage des Mandarin als wiederkehrende Formel durch seine Erinnerungen laufen und reiht aneinander, was er mit seinen blaugrünen Augen gesehen hat. Eine Thailänderin, mit der er einen Sohn hatte; Indianer, die ihre Riten Touristen vorführen, um überleben zu können; Kinder, die auf Müllbergen hausen; Jugendproteste in Zürich.

Sichtweisen

Als eine Reihe von Einzelereignissen lässt Loetscher Pasts Leben vor den Augen des Lesers ablaufen. Unverbunden, als "Bilanz eines Perplexen in einer Zeit des Wirrwarrs", der vieles gesehen hat, aber es in seiner enormen Komplexität nicht versteht.

Am Ende tauscht er sich mit dem Mandarin aus, der seinem Buch entsprungen ist und glücklicherweise Deutsch spricht, und das auch noch mit Schweizer Akzent.

Loetschers Geschichten mit dem Hang zum Kuriosen und Absurden spiegeln unsere Zeit der Wissenshäufungen: Sie zeigen, wie gut wir informiert sind und wie wenig wir uns selbst verstehen.

Die Geschichten sind brillant und überraschen mit bemerkenswerten An- und Einsichten, wenn Loetscher auf eine stille, dabei aber impertinente Art Vertrautes hinterfragt und als unsinnig bis inakzeptabel erweist.

Notiz: Hugo Loetscher: Die Augen des Mandarin. Diogenes Verlag 1999, 376 Seiten, Fr. 44.90.

Besprechung von Sabine Schmidt, SFD

 

www.culturactif.ch