Rom erleben und sterben

Ein Leseerlebnis von beunruhigender Intensität Elisabeth Binders Roman "Der Nachtblaue"

Der erste Roman der Zürcherin Elisabeth Binder ist die Überaschung des Schweizer Bücherfrühlings. So sprachmächtig, so stilischer hat seit Peter Webers " Wettermacher " niemand mehr die verwirrenden Ströme der Wahrnehmung auseinanderdividiert. " Der Nachtblaue " ist auch ein anstrengendes Buch, über das Schrecknis von Armut und Krankheit in geradezu mittelalterlichen Dimensionen im heutigen Rom – abseits der grossen Touristenpfade.

In Elisabeth Binders Roman erfüllt sich die Protagonistin, die Schiftstellerin C., einen jener Träume, der den kultivierten Mitteleuropäer seit Goethes Zeiten beherrscht : in Rom leben zu dürfen, sich in der Wiege der christlichen Zivilisation nach Herzenslust zu bewegen, ohne den Druck der Zeit, die Hypothek des nahenden Abreisetages zu spüren. C. ist nach Rom gefahren, um dort den Stoff für ihren ersten Roman zu sammeln. Es ist Anfang Dezember, und die Wahl dieses Monats ist nicht zufällig. Die Stadt ist von ihren Touristen befreit und auch vom sommerlichen Auftrag, grosszügig ihre in helles Licht getauchte Schönheiten herauszukehren. C. kann in das Wesentliche, gleichsam in die Seele Roms, vorstossen, in die Abgeschiedenheit der Strassen und Plätze, in die von nur mattem Winterlicht gefüllten Kirchen, die dem Besucher eine grössere Mühe abverlangen, wenn er ihre Kunstwerke entdecken will. Rom verwandelt sich so zur Bühne, auf der Stadtstreicher, geistig Behinderte und Blinde zu Hauptdarstellern werden. Die klassische Schönheit Roms findet sich in der Wohlgeformtheit von Händen und Ohren unter verfilztem Haar wieder, im Wohlklang von Silben, die aus zahnlosen Mündern kommen, im Stolz dieser Menschen, in der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, mit der sie ihre Nischen besetzen.

Elisabeth Binder stattet C. mit einer stupenden Beobachtungsgabe aus. Für das kleinste Detail, die scheinbar unbedeutendste Regung bei den Menschen, die sie trifft, aber auch bei ihr selbst feststellt, findet die Autorin eine adäquate Sprache. Binders Expressivität findet in der Schweizer Literatur der letzten Jahre kaum ihresgleichen. Das gilt ebenso für ihre Wohlüberlegtheit wie für die Kunstfertigkeit, mit der hier tableauartig das einfache Leiden vor historischer Grösse gewichtet wird.

Die Autorin erzählt von einer ihre Protagonistin und den Leser gleichermassen emotional provozierenden Stadt, die in keine touristischen Kategorien mehr passt.Berauschendes und Erschreckendes ziehen an C. vorbei, verdichtet durch die Kürze dieses einzigen Wintertages, an dem C. Tod und Sexualität, Kunst und Gewalt, Sehnsucht und Einsamkeit in einer in Mitteleuropa unbekannten Unmittelbarkeit erlebt. Das Armosphärische ersetz Handlung. Und doch ist der Sog, in den C. gerät, von geradezu übermenschlicher Kraft : die Suche nach dem " Nachtblauen ", jenem Unbekannten, den sie morgens, im Dunkel der Kirche Aracoeli, schemenhaft und fasziniert wahrnimmt und wenig später im dichten Verkehr der Stadt aus den Augen verliert. Wie von unsichtbaren Bändern gezogen hält sie nach ihm Ausschau, beinahe an ihrer eigenen Hartnäckigkeit irre werdend. Noch einmal, am Abend, wird sie ihn kurz wiedersehen, wie er die Kirche verlässt und kurz darauf tot zu Boden stürzt. Oder war es ein anderer ? War gar nicht C. die Suchende, war C. nicht vielmehr die Verfolgte ? Hat sie die Szene des Hinscheidens, des köperlichen Verfalls im Laufe dieses Tages nicht schon so oft gesehen ? Die Wahrnehmung von Tod und Erotik verfliesst in der Figur des Nachtblauen, schält noch einmal die verwirrende Destruktivität der Triebkräfte des Lebens heraus, welche die vermeintlichen Leistungen der Zivilisation vergeblich zu bändigen suchen.

Der Nachtblaue, Ed. Klett-Cotta, 2000

Michael Wirth
Schweizer Monatshefte 80. Jahr/Heft 5

 

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