Am 21. Juni ist Hans Boesch nach schwerer Krankheit im Alter von 77 Jahren in Stäfa verstorben. Damit hat die Schweizer Literatur einen ihrer bedeutenden Autoren verloren.

Ein stiller Kämpfer für die Langsamkeit

Sein letztes Buch „Schweben“ war ein vollendetes Kunststück an Leichtigkeit. So jedenfalls durften es die Leser und Leserinnen empfinden. Für den Autor Hans Boesch dagegen war es das quälendste seiner Bücher. Was so schwebend und befreit klang, war nicht im Zustand einer heitern, vielleicht melancholisch angehauchten Gelassenheit geschrieben, sondern einem Körper abgetrotzt, der sich mehr und mehr verweigerte und den Autor mit Schlaflosigkeit und Schmerzen peinigte. Und dennoch, schrieb Hans Boesch darob selbst verwundert in einem Brief, sei ihm das Buch wie von selbst von der Hand gegangen. Ein tragischer Widerspruch, der sich aufgehoben findet in der meisterhaften Binnengeschichte von der alten Hebamme, die in finsterer Winternacht einen Weg aus dem tückischen Rietland sucht. Boesch hat sie in einer einzigen Nacht nieder geschrieben.

In „Schweben“ haben sich gleichsam jene Gegensätze versöhnt - doch nicht aufgelöst -, die waren Fundament für sein gesamtes literarisches Schaffen. In einem Gespräch 1970 äusserte Boesch: „Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Gesellschaft voller Anachronismen steckt und das jedes noch so genau konstruierte und durchgerechnete Gebäude auf einem höchst unsichern Untergrund steht“. Daran scheint der Protagonist Simon bereits nicht mehr zu denken, wenn er sich der ebenso wunderbaren wie bedrohlichen Bergwelt einfach ergibt.

In diesem Punkt unterscheidet sich „Schweben“ von den früheren Büchern Boeschs - der hymnische Erstling „Der junge Os“ von 1957 ausgenommen -, worin er jenen Gegensatz von Natur und Technik, von Berechen- und Unberechenbarkeit reflektiert. In „Das Gerüst“ (1960) scheitert ein Bergbauingenieur zweifach beim Versuch, die schwankende Ordnung zu retten. Das ausgehöhlte Erdreich erweist sich als ebenso unstabil wie die soziale Ordnung. Auf subtile Weise macht Boesch hierin die tragische Verstrickung des Menschen in den Widerstreit von Natur und Technik erkennbar. Im grossartigen Roman „Die Fliegenfalle“ spitzte er sie acht Jahre später nochmals zu. Vor dem Hintergrund eines Strassen- und Stollenbaus im Gebirge spiegelt Boesch die ungebändigte Naturgewalt in der nicht minder gefährlichen Unentschlossenheit und Sprachlosigkeit seiner Helden.

Beide Romane bezeugen obendrein, dass hier einer versteht, wovon er spricht, denn Boesch war nicht nur Schriftsteller, sondern auch Ingenieur. Die ihn prägenden Gegensätze hat er selbst einmal unter das Motto „Raster und Ranke“ gestellt.

Von 1970 bis 1989 war er als Verkehrsplaner an der ETH Zürich tätig. Seine kritische Auseinandersetzung mit der modernen Stadtentwicklung lässt sich im Aufsatzband „Die sinnliche Stadt“ (2001) nachlesen. Ihren literarischen Niederschlag fand sie aber bereits 1978 in dem vielschichtigen opus magnum „Der Kiosk“. Boesch artikuliert hierin auf formal beeindruckende Weise seine Vorbehalte gegenüber einer Umweltgestaltung, die den Menschen in „künstliche Paradiese“ verbannt und ihm dafür die Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit raubt.

Dem entgegenzuwirken, hatte er sich als Verkehrsplaner zur Aufgabe gemacht. Als seine Kollegen an der ETH noch allesamt dem Automobilwahn huldigten, entwarf er Szenarien für eine lebenswerte „Langsamverkehrsstadt“. 1975 war Boesch notabene auch Mitbegründer der „Arbeitsge­meinschaft Recht für Fussgänger“ (ARF).

Sorgfalt, Langsamkeit, Sinnlichkeit waren für Hans Boesch die wesentlichen Werte, für die er sich zeitlebens engagierte: als Ingenieur wie als Schriftsteller. Daran hielt er mit der ihm eigenen Behutsamkeit und Zurückhaltung fest, die letztlich aber auch seiner Karriere im Wege stehen sollten. Boesch schreckte davor zurück, sich lauthals ins öffentliche Gespräch einzumischen, weshalb er stets etwas im Schatten seiner Generationsgefährten Otto F. Walter, Kurt Marti oder Peter Bichsel blieb. Dies änderte sich erst ab 1988, als „Der Sog“ erschien, der erste Band zur autobiographisch gefärbten Trilogie um die Figur des Simon Mittler. Sie liess Boesch endlich die ihm zustehende Aufmerksamkeit zuteil werden.

In „Schweben“ hat diese Trilogie aus den Bänden „Der Sog“, „Der Bann“ und „Der Kreis“ einen versöhnlichen, schönen Abschluss gefunden. Damit war sein Werk zu Ende geschrieben - irgendwie. Dennoch hätten wir gerne noch viel mehr von diesem grossen Schriftsteller und wunderbaren Menschen gelesen und vernommen. In der Trauer über seinen Tod bleibt bloss die Hoffnung, es möge sich ein Verleger seiner erbarmen und das eine oder andere der frühen, vergriffenen Bücher wieder auflegen. Mag Hans Boesch selbst verstummt sein, das letzte Wort über sein grossartiges Werk ist noch nicht gesprochen.

Beat Mazenauer

 

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