La critique littéraire en Suisse

Literaturkritik im Wandel
Von Erica Benz-Steffen

«Die Literaturkritik sitzt huckepack und sagt, wo's lang geht», äusserte der englische Autor, Übersetzer und Literaturkritiker Michael Hofmann kürzlich in seinem an einer internationalen Tagung in München gehaltenen Referat zum Thema «Literaturkritik und literarische Öffentlichkeit im europäischen Vergleich». Er bezog sich dabei auf den angelsächsischen Raum, in dem Buchbesprechungen in den etablierten Blättern nach wie vor ihren festen Platz haben.
Diese Wahrnehmung würde ich nicht unbedingt auf die Situation in der Schweiz übertragen. Mit dem Wandel des Feuilletons hat sich auch der Stellenwert der Literaturkritik verändert. In den Zeitungen hat sie an Raum verloren, weil die traditionellen Kulturthemen vielerorts von populären Themen verdrängt werden.
Dies liess sich über viele Jahre besonders in der Deutschschweiz verfolgen, wo die Feuilletons und mit ihnen die Buchrezensionen schrumpften und Literaturzeitschriften ihr Konzept änderten oder verschwanden. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Wenn man bedenkt, dass allein die Schweizer Verlage jährlich gut 2'000 literarische Titel auf den Markt bringen, fragt man sich als Leser, wie man sich in diesem Dschungel zurechtfinden soll. Hier braucht es Selektion und Orientierungshilfe, damit der Leser die Chance hat, die ‹Nadeln im Heuhaufen› zu finden. Und hier ist der Kritiker gefragt.
Neben Rezensionen im Feuilleton der wichtigen Zeitungen stehen dem Leser heute verschiedene andere Informationsquellen über neue Bücher zur Verfügung: vom Fernsehen bis zum Internet. Der Leser kann sogar selber zum ‹Literaturkritiker› werden und andere mit seiner höchstpersönlichen, meistens von keinerlei Sachkenntnis getrübten Meinung z. B. bei Amazon im Netz beglücken. Dass diese neuen Ausdrucksformen zu erheblichen Qualitätsschwankungen führen und nicht unbedingt aufschlussreich sind, liegt auf der Hand. Bei Fernsehsendungen stellt sich häufig die Frage, was eigentlich im Vordergrund steht, das besprochene Buch oder die Selbstdarstellung des Kritikers. Auf jeden Fall muss die Sendung genug Unterhaltungspotenzial haben. Beliebt sind in diesem Medium auch Rezensionen in Kurzform wie «Gelesen, geweint, glücklich gewesen. Wunderbar!», die dem Verlag das Marketing erleichtern. Diese Verkürzung verwundert allerdings kaum, wenn man bedenkt, dass neuerdings literarische Meisterwerke in Form von abstracts unter die Leute gebracht werden.
Nichts gegen den Versuch von Kritikern ein grösseres Publikum für Literatursendungen und damit auch fürs Lesen zu gewinnen. Etwas mehr als verkaufsfördernde Schlagwörter dürften es schon sein.
Der Begriff «verkaufsfördernd» führt zwangsläufig zum Buchmarkt, der sich ebenfalls radikal verändert hat. Wenn man heute Bücher verkaufen will, müssen sie auffallen. Der beste Weg zum Verkaufserfolg sind Bestenlisten, wobei allerdings nur die ersten Plätze mit Aufmerksamkeit rechnen können. Der Medienrummel um den Autor tut dann ein Übriges. Auch diese Entwicklung beeinflusst den Spielraum und den Stellenwert der Literaturkritik.
Die bekannte Kritikerin Sigrid Löffler spricht in diesem Zusammenhang von einer Spaltung des Buchmarkts. Sie vertritt die These, dass Verlage zwei Sorten von Büchern produzieren «Vertriebsbücher» und «Pressebücher». Die Vertriebsbücher, bei denen der Verkaufserfolg mehr oder weniger sicher ist, sind nicht angewiesen auf die Literaturkritik und werden an ihr vorbei auf dem Markt lanciert.
Die Pressebücher hingegen brauchen gute Rezensionen, damit man auf sie aufmerksam wird. Überspitzt gesagt würde das heissen, dass der Kritiker in der Wahl seiner Titel nicht frei, sondern auf die Zuteilung durch die Verlage angewiesen ist.
Wieweit diese Entwicklung bereits auf die Schweiz übergegriffen hat, können die Betroffenen beurteilen. Mir scheint die Situation nicht ganz so dramatisch. Das Thema wäre eine Diskussion wert.
Die Liste der Veränderungen, in der Regel negativer Art, liesse sich fortsetzen und ist in verschiedenen anderen Beiträgen dieses Schwerpunkt-Themas bereits angesprochen worden.
In einem Punkt scheinen sich alle Autoren, die sich in dieser Ausgabe von Viceversa zum Thema Literaturkritik in der Schweiz geäussert haben, einig zu sein: Es braucht ein literarisches Leitsystem mit vielen unabhängigen und kritischen Stimmen. Es braucht ein Gegengewicht zur verkaufsorientierten Bewertung von Büchern, mit denen Literaturkritik neuerdings häufig verwechselt wird. Und eine professionelle Beurteilung von Büchern ist unentbehrlich für Leser, die sich ihre Lektüre nicht vom Markt diktieren lassen wollen (die Schweizer Literatur dürfte dabei ruhig etwas mehr Gewicht haben!). Es lohnt sich, darüber nachzudenken, was man für den Erhalt einer Literaturkritik, die diesen Namen verdient, tun kann.

Erica Benz-Steffen war bis 2007 Leiterin der Abteilung Literatur und Gesellschaft bei Pro Helvetia ; ab 2008 Projektkoordinatorin für ein gemeinsames Übersetzungsprojekt von Österreich, Deutschland und der Schweiz in Südosteuropa.

 

Respekt, meine Damen und Herren, ich bitte um Respekt.
Von Ricco Bilger

«Der erste hat es am schwersten, und wenn seine Kräfte erschöpft sind, geht ein anderer vom selben Fünfertrupp voran. Von denen, die der Spur folgen, muss jeder, selbst der Kleinste und Schwächste, auf ein Stückchen unberührten Schnee treten, nicht in die fremden Fussspuren. Auf Traktoren und Pferden kommen nicht die Schriftsteller, sondern die Leser.» Diese Zeilen bilden den Schluss des Prologs, den der sowjetische Schriftsteller Warlam Schalamow (1907–1982) seinem Erzählband Durch den Schnee vorangestellt hat. Die Erzählungen schrieb er nach seiner Rückkehr aus dem Lager in der Region Kolyma.

Die Ebene ist eine unberührte Landschaft, die im Schnee versinkt. Ein Schneeteppich, gewoben aus den Stoffen, die der Mensch erzählt, wenn er um eine Geschichte weiss und dafür eine Sprache gefunden hat. Wenn wir genauer hinschauen, entdecken wir in diesem Menschen einen Schriftsteller, und, ein bisschen weiter hinten, ein Gefolge. Nie habe ich diese kleine Karawane besser erzählt gehört, als von Warlam Schalamow. In dieses Weiss hinein gilt es einen Weg zu stapfen und dem ersten, der diesen Weg geht, werden die meisten Kräfte abgefordert. Schritt um Schritt schreibt er einer unsichtbaren Linie entlang, deren Ende nicht absehbar ist. Er setzt sich seine Wegmarken selber. Die, die folgen sollen es leichter haben. Der Verleger folgt blind, blind in seinem Vertrauen, dass die Schriftstellerin, der zu folgen er sich entschieden hat, ihn durch diese Wüste ans Meer führt. Er, ein paar Zentimeter grösser gewachsen, ist immer bereit, streckenweise selber erste Schritte in den Schnee zu treten, selbstbewusst die Stiefelspuren zu einem Stiefelspurenpfad zu treten. Lektorat und Korrektorat ziehen einen kleinen Schlitten, darauf Tee und Zwieback. Ein eisiger Wind fegt über die weisse Decke. Hose, Jacke und Hemd sind fadenscheinig. Rauch, von aus Flechten und Moos gedrehten Zigaretten steigt in den ausdruckslosen, gleissenden Himmel.

Dann ein kleiner Pulk von vier, fünf Menschen, dick in Rentier- und Seeleopardenfell gehüllt. Sie folgen der Spur. Sie wissen, alleine in der Tundra wären sie verloren. Es ist nicht die erste Karawane, der sie sich angeschlossen haben. Sie wissen auch, dass sie nirgendwohin gelangen, wenn sie nicht selber immer wieder ihren Teil beitragen. Sie sind Begleitung, nicht Passagiere. Ihnen obliegt Verantwortung. Die einen legen selber ein paar Werst weit Spuren, wenn die Schriftstellerin am Ende ihrer Kräfte scheint. Andere treten Spur und Pfad fest, benennen den Weg, setzen Wegzeichen. Wieder andere fassen zusammen, sammeln die Seiten, die die Spur der Schriftstellerin bedecken, bündeln sie, bringen sie zwischen Fell und nackter Haut in Sicherheit. Alleine sind sie nichts. Sie heissen Kritiker, sind Literaturkritikerinnen. Ihre runden Backen sind gerötet vor Leidenschaft und ihre Augen blitzen vor Aufregung, ihnen könnte ein verlorenes Blatt im Schlepp der Dichterin entgehen. Sie wissen, dass die Leser, die auf Traktoren und Pferden kommen, in blindem Vertrauen auf die Wegbauer, der Spur des Schriftstellers zu folgen bereit sind. Die grosse, weisse Göttin hat die Kritiker einzig und allein dazu erschaffen, damit sie aufmerksam festhalten, wie tief die Stiefeltritte der Dichterin sind und ob sie sich im Kreise drehen oder sicheren Schrittes dem Meer zu bewegen.

Literaturkritikerinnen und Kritiker treten in fremde Fussspuren. Das ist ihre Aufgabe. Die zu erfüllen bedarf eines grossen Respekts jenen gegenüber, die die Spur gelegt haben und sie bedarf eines ebenso grossen Respekts jenen gegenüber, denen der Weg bereitet wird, den Leserinnen und Lesern.
Warlam Schalamow hat in wenigen Sätzen alles gesagt, was es zum Thema Literaturkritik zu sagen gibt. In einem Land, in einer Zeit, in der Respekt die höchste und am meisten vermisste aller Tugenden geworden ist.

Ricco Bilger ist Verleger (bilgerverlag) und Buchhändler (sec52) in Zürich.

 

Die Literaturkritik im Spiegel der Literatur
Von Claude Frochaux

Die Literaturkritik ist ein Echo, ein Spiegel, ein Abbild der Literatur. In der Westschweiz – wie übrigens in ganz Westeuropa – geht es der Literatur schlecht. Es ist folglich normal, dass es auch mit der Literaturkritik nicht zum Besten steht. Dies ist nicht ihr Fehler: Sie schaut sich um, sie verfolgt Trends, sie gibt Rechenschaft ab, sie stellt fest. Nach und nach, unterstützt vom Marketing, verringert sich der Platz, den ihr die Redaktionen zugestehen. Sie geht zwar nicht ein, sie wird einzig schwächer. Auf allen Ebenen: weniger Engagement, weniger Enthusiasmus oder Leidenschaft. Und weniger Konzentration. Die wahre «literarische» Literatur muss sich mit der Soziologie, der Anekdote, der Popularisierung, der geo-ideologischen Situation, dem Kommerz abfinden. Das, was rund um das Buch oder den Autor passiert, wird ins Zentrum gerückt. Woher stammt der Autor, wie situiert er sich in der politischen oder kulturellen Landschaft, wen oder was repräsentiert er, wie alt ist er, was ist er von Beruf, warum spricht er über dieses Thema, warum ist er legitimiert, darüber zu sprechen? Man beschäftigt sich eher mit dem, was rund ums Buch geschieht, als mit dessen Inhalt. Manchmal hat man den Eindruck, es gehe hauptsächlich darum, sich über ein Buch zu unterhalten, ohne wirklich darüber zu sprechen. Als ob man durch das Drumherum-Gerede vermeiden könnte, es zu öffnen.
Der bedauernswerte zeitgenössische Literaturkritiker gerät zwischen zwei Fronten. Er sieht sehr wohl ein, dass die Literatur nicht oder nicht mehr im Zentrum der Beschäftigung des Lesers steht. Tradition verpflichtet aber auch, und es gilt, die anerkannten Werte zu verteidigen und weiterzumachen. Alle Umwege sind von nun an legitim. Es gibt den Comic, den Krimi, Science-Fiction, die Medien, die Preise – alles ist gut genug, um einer genauen Lektüre auszuweichen, dem Autor bei seinem kreativen Prozess zu folgen, als Brücke zwischen ihm (dem Autor) und der potenziellen Leserschaft zu fungieren. Aber drücken wir die Kritiker nicht zu Boden. Die Literatur hat seit jeher die Kritik gehabt, die sie verdient, und es wäre unanständig, von ihnen zu verlangen, eine Literatur, die ihre noble Gesinnung verloren hat, zu portieren.

Claude Frochaux, geboren 1935. Er arbeitete zuerst als Buchhändler und ist seit 1968 Verleger bei l'Age d'Homme. Er lebt als Romanautor und Essayist in Lausanne.

Übersetzung von Barbara Traber

 

Wohin der Wind weht: Kritik jenseits der Kontingenz
Von Gilberto Isella

Als Ort der Interpretation, der zwischen Philologie und den Geisteswissenschaften (allen voran der Ästhetik) oszilliert, hatte die Litera­turkritik immer Mühe, zu echter Autonomie zu gelangen. Sie scheint dazu bestimmt, ‹ohne Eigenschaften› zu bleiben: aus Mangel oder aus Überfluss derselben. Die Überwindung von Croces Idealismus ermöglichte ihr, verschiedenste Disziplinen in sich aufzunehmen; letztere profitieren heute nicht wenig von diesem Gastrecht und es besteht die Gefahr, dass sich in ihrem Innern überflüssige und selbstbezogene Nischen bilden. [Widerspiegelt sich darin etwa der Hang des modernen Buchs, zum heterogenen Körper zu werden, in dem sich Interdiskursivität aufdrängt?]
Die Kritik erschliesst tatsächlich unzählige Resonanzräume im beurteilten Werk, was Abweichungen und ein laufendes Anpassen des Stilregisters ermöglicht. Dieses ihr eigene Merkmal der Freiheit vermochte nicht einmal der Strukturalismus je ernstlich in Frage zu stellen. Die deutende Lektüre ist frei, sagt Blanchot, weil «das Werk noch versteckt ist, vielleicht gänzlich abwesend, auf jeden Fall unsichtbar, verdunkelt von der Evidenz des Buchs. Dahinter wartet es auf das erlösende Urteil, auf das Lazare, veni foras ». Die Entschlüsselung des Werks geht mit einem vorsätzlichen Akt, etwas anderes zu enthüllen, einher: nicht das allgemeine Biographem, sondern das vom Verfasser behauste Wort. Und wenn der hermeneutische Zirkel seine grösste Wirkung beim anderen Subjekt anerkennt, von der Schrift unterstützt, so kann die Ausgangsfragestellung nur von einer Spiegeldynamik durchdrungen sein.
Dies führt uns zum Pakt zwischen Leser und Autor, der von Empathie, von ethisch-ästhetischer Komplizenschaft bestimmt wird und – im besten Fall – frei von Narzissmus ist; ja im Gegenteil, das Zugehörigkeitsgefühl zu gemeinsamen historisch-existenziellen Ereignissen zu bekräftigen vermag (siehe die ‹kathartische› Annäherung an die erzählende Literatur eines Primo Levi). Der authentische kritische Akt ist aus Prinzip auf die Homogenität der Ziele – die dem Erfassen der Form des Anderen zustreben – ausgerichtet, und dies trotz des Bewusstseins, dass sich der Zugang zum Werk immer in einem unlösbaren Prozess vollzieht. Daneben gibt es ausserge­wöhnliche Leser (von Benjamin über Blanchot zu Praz), die fähig sind, die Pluralität der Sinnstränge in ‹universelle› Formeln zu überführen. Wichtig ist, dass diese nicht zu Fetischen oder Gemeinplätzen verkommen, sondern gerade wegen ihres grossen Reichtums zur Weiterentwicklung des hermeneutischen Ansatzes anregen können.

Gilberto Isella ist Literaturkritiker (mit Schwerpunkt Lyrik) für Tessiner Tageszeitungen und Zeitschriften. Er ist Autor zahlreicher Lyrikbände und Übersetzer aus dem Französischen.

Übersetzung von Susanne Spahni

Der Buchhändler: Kritiker und Werbefachmann
von Edy Mombelli

Es gibt immer mehr Bücher, die sich ohne Buchhändler verkaufen: Sie werden in riesigen Werbekampagnen angekündigt, gleichzeitig in mehreren Ländern und mit demselben Bild auf dem Buchumschlag veröffentlicht ( beispielsweise Isabel Allende ), und sie gelangen auch ohne die «Hilfe» eines Buchhändlers auf die Nachttische der Leser. Diese Bücher findet man überall, sogar in den Supermärkten. Sie gelangen sofort auf der halben Welt an die Spitze der Bestsellerlisten, und die grossen Buchketten, die Verleger und natürlich die Autoren machen mit ihnen ihr Glück. Oft wird ihr Erscheinen von Sonderevents begleitet, die nicht unbedingt im Zusammenhang mit Literatur stehen. Man denke an die Veröffentlichung des letzten Bandes der Harry-Potter-Saga.
Der unabhängige Buchhändler, der sich auf die Kritik verlässt – teils um aus dem riesigen Meer an Publikationen (allein in der italienischen Sprache werden 30'000 Titel im Jahr produziert) das Gute herauszufischen, teils um sich eine eigene Meinung zu bilden – ist das fehlende Glied in der Kette zwischen literarischem Werk und anspruchsvollem Leser; jenem Leser wohlgemerkt, der noch Zeit und Lust hat, sich in eine kleine Buchhandlung zu begeben, die Buchumschläge neugierig zu betrachten und um Rat zu fragen. Der Buchhändler entwickelt mit der Zeit einen Instinkt für die guten Sachen, vielleicht auch weil er sich von der Kritik leiten lässt. Ja, er schafft sich sogar seine ganz persönliche literarische Geschichte und wird so selbst zur Instanz für die Leser- und Kundschaft. Die Zeit ermöglicht ihm dies. Zeit, die er hat und die er gibt; er ist nicht getrieben vom Zwang, nur zu verkaufen, auch nicht von einem übergrossen Druck des Kunden; keine Hast treibt ihn an, denn seine Arbeit wird von Idealen geleitet.
Ich habe für einen kleinen Verlag unter dem Namen meiner Buchhandlung Lyriksammlungen publiziert, wohl wissend, dass sich Poesie nur schlecht verkauft. Trotzdem waren sie wertvoll, in einem gewissen Sinn wurden sie zum poetischen Emblem der Buchhandlung selbst.
Wichtige Werk­zeuge der Literaturkritik sind für mich neben den Kulturseiten der Tessiner Tages­zeitungen die Wochenzeitschrift Azione mit ihren wertvollen Literaturseiten, die Sonntagsbeilage des italienischen Sole 24ore , die Samstagsbeilage « TuttoLibri» in La Stampa aus Turin, La Repubblica und «la talpa» in der Zeitung il manifesto ; daneben noch die Monatszeitschrift Poesia und die Jugend ­ zeitschrift Pulp , die alle zwei Monate erscheint.

Edy Mombelli leitet die Buchhandlung Leggere in Chiasso. Er ist Herausgeber einer Lyrikreihe mit dem selben Namen.

Übersetzung von Susanne Spahni

 

Karin Schneuwly

Ich finde es fein, dass die voyeuristischen Anreize der Literaturkritik nachlassen und dafür der intellektuelle Einsatz gesteigert wird.

Karin Schneuwly arbeitet im Literaturhaus Zürich.

 

Der Bibliothekar und die Literaturkritik
Von Laurent Voisard

Der Bibliothekar spielt in der Welt des Buches eine besondere Rolle. Als Glied in der Kette ist er zugleich Käufer und Verkäufer, Bittsteller und Verordner. Er hält den beneidenswerten Platz eines Vermittlers inne, steht in engem Kontakt zum Publikum und kennt dessen Geschmack. Die Schwierigkeit der Bibliotheksarbeit besteht nicht so sehr im Empfehlen von Büchern, sondern eher darin, in der Masse der Titel auf dem Büchermarkt die berühmt-berüchtigten unumgänglichen Romane zu entdecken. Wie der Schriftsteller ist der Bibliothekar nur von einer Sache besessen: dass ein bestimmter Roman seinen Leser findet, dass das Buch gelesen und möglichst auch geschätzt wird. Jedes Buch verdient seine Leser, selbst wenn es nur ein einziger ist, und der Bibliothekar gibt gerne seine Zeit her, damit diese Begegnung stattfinden kann. Der ökonomische Druck ist nicht sehr gross, das Buch im Regal kann entspannt auf seine Leserschaft warten. Ein erfahrener Bibliothekar kennt die Autoren, die Verlegerinnen, die Sammlungen, und er vertraut seinem Gespür. Sein Verwandter, der Buchhändler, mit dem ihn der Laie oft verwechselt, hilft ihm dabei. Aber er kann sich auch auf die Literaturkritik stützen, um seine Auswahl zu erweitern. In der Romandie wie anderswo tut die Literaturkritik ihr Möglichstes, sich der literarischen Überproduktion zu stellen. Sie versucht den Überblick zu wahren, schreibt viele Empfehlungen und wenig Verrisse – mit Ausnahme von Westschweizer Autoren und grossen Namen, die allzu leicht an die Spitze geraten sind. Aber mit dieser notwendigen Überlebensstrategie rettet sich die Kritik vor der grossen Produktionsflut, in der sie unterzugehen droht. Eine beeinflussbare Kritik, sowie Buchhändler und Bibliothekare, die von Büchern geradezu überschwemmt werden, bieten den oft gestressten Lesern «leichte Kost» an. Als Leser habe ich mir jedoch angewöhnt, einigen begabten in der Romandie und in Frankreich überlebenden «Spürnasen» zu vertrauen. Es ist eine Tatsache, dass niemand alles lesen kann, und die gemeinsame Triage durch die Kritik, die Buchhändlerinnen und Bibliothekare ist die einzige Rettung der Leser.

Laurent Voisard ist ausgebildeter Bibliothekar und zurzeit Direktor der Bibliomedia Schweiz in Lausanne, der Bibliothek der Bibliotheken.

Übersetzung von Barbara Traber